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Struwwelpeter meets Shakespeare

geschrieben von Natascha Mester im Dezember 2013

Gelungene Gratwanderung zwischen vergnüglichem Bühnenspektakel, morbidem Humor und hoher Kunst: Die Schauspieler Philip Richert und Gregor Müller inszenierten die „Junk-Oper“ Struwwelpeter für Erwachsene — bis Februar im Theater Lüneburg zu sehen

Wissen Sie, was es mit einer Junk-Oper auf sich hat? Nein? Dann sei Ihnen dringend zu einem Besuch des Stückes „Struwwelpeter“ im Theater Lüneburg geraten, denn dort werden diese Begrifflichkeiten – versprochen — bis ins letzte Detail geklärt! Ich sehe schon das Stirnrunzeln der werten Leserschaft: „Struwwelpeter? Das waren doch die Bilderbuchgeschichten des Arztes Heinrich Hoffmann.“ Ganz richtig. Und ein Großteil der heute erwachsenen Zuhörerschaft erinnert sich mit Grausen an sie zurück. Der Daumenlutscher, der Suppen-Kaspar, der Zappel-Philipp oder der fliegende Robert – diese Geschichten unterhielten nicht nur, sie gewährten einen allzu tiefen Blick auf Horrorszenarien kindlichen Ungehorsams und hinterließen vor allem eines: Furcht. Doch als ein probates Mittel gegen Angst gilt bekanntlich lautes Singen. Was also liegt näher, als den Schreckgestalten dieser Erzählungen mit einer grotesk-makabren Interpretation, viel Musik und Gesang entgegen zu treten und sie auf die Theaterbühne zu bringen, mögen sich die Engländer Phelim McDermott und Julian Crouch gefragt haben. Sie würzten ihre Bühnenversion mit einer deftigen Prise schwarzem Humor und der wunderbar-schrägen Musik der Londoner Kultband „The Tiger Lillies“ und kreierten kurzerhand eine so genannte Junk-Oper, ein vergnügliches Grusical für Erwachsene, den „Shockheaded Peter“. Gregor Müller und Philip Richert, Schauspieler des Lüneburger Ensembles, reduzierten das ursprünglich noch opulentere Bühnenspektakel und schneiderten es der Bühnensituation im Foyer des T.NT auf den Leib. Man fand alternative Darstellungsformen, auch für die Erzähltexte, die allesamt dem Rotstift zum Opfer fielen. Stattdessen wird nun spitzfindig aus Shakespeare zitiert, aus Macbeth und auch aus den Königsdramen. Das passt wie die Faust aufs Auge, schließlich greifen die Texte des wortgewandten Dramatikers im weitesten Sinne den Kern der makabren Geschichten Hoffmanns auf: Auch in ihnen geht es nicht selten um tragische Figuren. „Wir haben nach Texten gesucht, die inhaltlich an die Kraft der Songs heranreichen“, erklärt Richert, „da konnten wir eigentlich nur in der Hochklassik fündig werden.“ Getragen wird das Schauspiel von der Musik, die die „Tiger Lillies“ beisteuerten, eine musikalische Kunstform, die irgendwo zwischen Brecht und Weill, Zirkusmelodien, Chanson und Kabarett verortet ist. Philip Richert, selbst passionierter Musiker, benannte seine Band für das Stück in „Die Böhzen Buben“ um und probte den unverwechselbaren Tiger-Lillies-Sound, indem er das Keyboard gegen ein Akkordeon und den E-Bass gegen einen Fretless Bass tauschte, mit dem, da ohne Bünde gespielt, eine Imitation des originalen Kontrabasses gut gelingt. Um akustisch Bilder heraufzubeschwören, setzten beide Schauspieler ihre Stimmen als gewichtiges Stilmittel ein: mal erzählend, mal als Vehikel fürs große Gefühl, dann wieder brachial oder brüchig im hohen Falsett, um den allgegenwärtigen Duktus des Maroden heraufzubeschwören. Parallel schlüpfen beide chamäleonartig in die unterschiedlichsten Rollen, spielen genderübergreifend äußerst überzeugend mal Weiblein mal Männlein; zur Seite stehen ihnen neben der Band drei nicht minder begabte, herrlich schräge Engel — Calvin Auer, Till Krüger und Dominik Semrau vom TheaterJugendClub — die samt blonden Perücken und Federflügelpaar im Laufe des Abends für Gesang, Action, viel Blut und allerlei Staffage zuständig sind. Das hört sich nach „Trash“ an? Mitnichten. In der Summe ist da ein Stück gelungen, das die heikle Gratwanderung zwischen bitterbösem Humor und hoher Theaterkunst mit Bravour bewältigt. Ein vergnügliches Bühnenerlebnis, das gleichermaßen zu schockieren und zu berühren vermag. Das erfordert sowohl ein gekonntes Maßnehmen bei der Verwendung künstlerischer Zutaten, wie auch den äußerst präzisen Umgang mit dem Frivolen. Und überhaupt sei der Begriff „Trash“ nicht passend, fügt Gregor Müller noch hinzu, dem gerade in der Maske sein markantes Aussehen für die Generalprobe regelrecht ins Gesicht gemalt wird. „Brüchig“ wäre vielleicht der treffendere Ausdruck, denn Brüche gäbe es in diesem Stück viele — zwischen Text und Musik, zwischen Schockieren und Anrühren, zwischen Unfertigem und Ausformuliertem. „Alles bewusst eingesetzte Stilmittel, um die Verletztheit und Tragik der Figuren zum Ausdruck zu bringen“, erläutert der Schauspieler und deutet wie zur Erklärung auf sein überzeichnetes und noch nicht ganz vollständiges Make-Up. Noch bis Februar ist die Junk-Oper „Struwwelpeter“ im Theater Lüneburg zu sehen. Im Anschluss an jede Vorstellung gibt es Musik und ein geselliges Treffen an der Bar des T.NT.(nm)

Foto: Enno Friedrich