Magazin über das Leben in Lüneburg
Themen
Alle Themen und Artikel

Lüneburgs eiserner Traum

geschrieben von Hajo Boldt im April 2013

Die „Merkur“ ist heimgekehrt: Bürgermeister Eduard Kolle begab sich auf die Suche nach Lüneburgs historischen Stadtkanonen und wurde in Frankreich fündig

So, wie Peter Maffay sich in seinem Song „Über sieben Brücken …“ manchmal sein Schaukelpferd zurück wünscht, so hat Lüne­burgs Bürgermeister Eduard Kolle ein Steckenpferd, das ihn seit Jahren umtreibt: das Sammeln historischer Kanonen.
Seine erste Leidenschaft für die kleinen, handlichen Modelle aus Messing oder Bronze konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Interesse eigentlich den großen gilt – genauer den Lüne­burger Stadtkanonen, die einst die Festungsstadt Lüneburg mit lauter Stimme und ordentlich „Kawumm“ vor Angriffen schützten.
Kolle als Berufssoldat a. D. war sich sicher, dass diese noch existierten und träumte jahrelang davon, sie in ihre Heimat zurückzuführen, um Lüneburg ein Andenken an ihre Vergangenheit als Fes­tungsstadt zurückzugeben. Kolle, auch Kommandeur des Schwarzen Korps in der Allgemeinen Schützengesellschaft, setzte auf internationale Hilfe: „Anhand des Stadtwappens, durch Gießerzeichen oder durch die markanten Initialen als ­Arbeit der Snitker, von der Rist und Barchmann könnten wir manch wertvolles Stück der Lüneburger Meister nachweisen. Wenn ich auf Reisen bin, schaue ich mich immer gerne in Museen, Sammlungen und Ausstellungen um und frage nach den bekannten Lüneburger Namen.“

Die Wälle waren grossenteilsmit Geschützen aus der Kanonengiesserei der Bachmanns bestückt

Kolle als Berufssoldat a. D. war sich sicher, dass diese noch existierten und träumte jahrelang davon, sie in ihre Heimat zurückzuführen, um Lüneburg ein Andenken an ihre Vergangenheit als Fes­tungsstadt zurückzugeben. Kolle, auch Kommandeur des Schwarzen Korps in der Allgemeinen Schützengesellschaft, setzte auf internationale Hilfe: „Anhand des Stadtwappens, durch Gießerzeichen oder durch die markanten Initialen als ­Arbeit der Snitker, von der Rist und Barchmann könnten wir manch wertvolles Stück der Lüneburger Meister nachweisen. Wenn ich auf Reisen bin, schaue ich mich immer gerne in Museen, Sammlungen und Ausstellungen um und frage nach den bekannten Lüneburger Namen.“
In Burgen oder Schlössern oder in privater Hand konnten die Kanonen gelandet sein, ohne dass man sich ihrer Lüneburger Herkunft bewusst ist. In seinem Frankreichurlaub hielt und hält er besonders aufmerksam nach ihnen Ausschau, schließlich gab es bereits zahlreiche Hinweise darauf, dass sie dort ihre letzte Ruhestätte gefunden haben könnten — wenn sie nicht eingeschmolzen und versilbert wurden. Seine Frau hat er mit seinem Eifer bereits angesteckt. „Meine enge Ver­bindung zu Lüneburgs französischer Partnerstadt Clamart war dabei äußerst hilfreich“, sagt Eduard Kolle, der auch im Kulturausschuss vertreten ist. Die Partnerschaft mit Lüneburg wurde bereits 1975 geschlossen. Die Stadt liegt im Südwesten von Paris, ihr Name taucht erstmals im 11. Jahrhundert auf. Kolle hatte bei seinen zahlreichen Besuchen mehrfach das Problem erörtert und traf auf offene Ohren, die Fahndung nach den verlorenen Relikten wurde schnell zu einem gemeinsamen Anliegen.
Und dann erhielt er im vergangenen November an einem Samstagabend einen unerwarteten Anruf aus dem Franzosenland von Claude Pétard, Bürger­meister der Gemeinde Campénéac in der Bretagne. Anhand der gut sichtbaren Prägungen und dem Stempel der Werkstatt wollte man die „Merkur“ ausfindig gemacht haben, die dereinst auf dem Sülztorwall stand. Sie war offensichtlich auf der Wasserburg Trécesson, heute im Privatbesitz, gestrandet. Für Eduard Kolle ein einzigartiger Moment: Wenige Tage später trat er gemeinsam mit einem Sachverständigen des historischen Waffenmuseums aus Überlingen die Reise zur Über­prüfung der Echtheit des unglaublichen Fundes aus dem 17. Jahrhundert an. Die Überraschung fand ihren Höhepunkt, als sich die Kanone tatsächlich als die „Merkur“ zu erkennen gab. Dann mussten erst weitere drei Monate des ungeduldigen Wartens vergehen, bis schließlich die stellvertretende Übergabe eines Modells durch Bürgermeister Pétard am 16. März 2013 in Lüneburg stattfinden konnte; das Original wird erst im Juni versandfertig sein. Eduard Kolle ruht auch jetzt noch nicht, im Gegenteil: „Jetzt weiß ich, dass die Möglichkeit besteht, auch weitere Kanonen ausfindig zu machen. Dieser Fund macht Mut, mich noch stärker für deren Bergung zu engagieren.“
Auf dem großen Wall an der alten Stadtmauer zum Liebesgrund und der Bastion befindet sich genügend Platz für eine Wiederaufstellung; hier wird auch die „Merkur“ ihren neuen Standort finden. „Zu besonderen Anlässen könnte es dann auch wieder richtig krachen, wenn, wie anno dazumal, Salut geschossen wird“, begeistert sich unser Bürgermeister.

Lüneburgs Stadtkanonen

om 16. Jahrhundert an galt Lüneburg als Fes­tungsstadt. Die Wälle waren mit Geschützen aus der Lüneburger Kanonengießerei der Barchmanns bestückt. Sieben Batterien schützten die Stadt: Auf der ersten Batterie, der Aschenkuhle (Bastion) lagen im beginnenden 19. Jahrhundert drei Geschütze und eben so viele auf der zweiten Batterie, dem Bardowicker Wall. Die dritte Batterie war der Scheibenposten mit sieben Geschützen, darunter auch das älteste von 1522 aus Barchmanns Gießerei. Das jüngste, 1688 von Johann Oppermann gegossen, trug den Spruch: „Ich bin und heiße der brillender Leuw, ich brille wol und beiße nicht, ja wann man mich mit Feuer ansticht, weiß ich mich meisterlich zu rächen, meinen flehenden Feind zu Tode zu stechen, ich habe den Nahmen mit der That, der der brillende Leuw fiel Flehe hat“.
Die zwei Geschütze der vierten Batterie oberhalb der Ratsmühle waren ein Zunftgeschenk und mit dem Bild dreier Heringe versehen. Die fünfte und sechste Batterie diesseits und jenseits des Roten Tores zählten je nur „einpfündige“ Kanonen. Auf dem Sülzwall, der siebten Batterie, standen noch zwei drei- und vierpfündige Barchmanns. „Merkur“ hieß der eine, „Sankt Matheus“ der andere. „Na Kristus unsers Herrn Geburt dusent fifhundert XLVII hebben de sulfmester dut Stuck geten laten.“ Wilhelm Reinecke berichtete dazu auch in seiner Geschichte der Stadt Lüneburg, dass hier im Siebenjährigen Krieg die schwerste Kanone, „Sängerin“ genannt, mit einem Gewicht von 67 Zentnern den Sülzwall schützte. Sie trug das Bild einer von reitenden Engeln begleiteten Frau und den Spruch: „De Sengerinne bin ick genannt, för­sten und Herrn bin ick wol bekant …“ Eine Schlange für Zwölfpfünder hieß wiederum der „Drache“: „Ick bin de drake ungehüre, wem ick steke, dem wart dat lagghen (Lachen) düre!“ Mit dem Stadtwappen, von Engeln, Meergöttern oder Göttinnen beschirmt, waren auch 18 Kanonen verziert, die Valentin Barchmann der Ältere (gestorben 1585) gegossen hatte. Ihre Paten waren die vier Evangelisten, die heiligen drei Könige, Mars, Venus oder allegorische Gestalten wie die Klugheit; auch kriegerische Merksprüche fehlten nicht.

Am 20. November 1803 machte der städtische Artillerieleutnant Sander eine dienstliche Bestandsaufnahme. Er stellte fest, dass von den zurzeit vorhandenen Kanonen schon 13 Stück im Jahre 1654 existierten und neun Stück nach dem Siebenjährigen Krieg 1770 zur Deckung von Stadtkriegsschulden für 6.000 Mark verkauft worden waren. Reinecke nennt zur Verpfändung auch einen möglichen Lieferort: die Stadt Stade. Es gab keinen Anlass für Zweifel, dass die Kanonen für Kriegszwecke schon wegen ihres Alters und Kalibers unbrauchbar waren. Räder und Lafetten hatten schwer gelitten oder waren zerstört. Streng genommen waren sie gar nicht mehr Eigentum der Stadt, sondern gehörten Gläubigern. Dieser Zustand war in aller Öffentlichkeit von dem Obersten Dessaix, dem Divisionsgeneral Montrichard und dem kommandierenden General Mortier anerkannt, deshalb hoffte der Rat, die Kanonen würden Eigen­tum der Stadt bleiben.
Am 15. November 1803 weilte im Auftrage des kommandierenden Generals der Artillerie Dulauloy sein Generalstabschef in Lüneburg, um sich vor Ort über die artilleristischen Verhältnisse der Stadt zu unterrichten. Sein Führer war der erste Artillerieoffizier Oberstleutnant Mongenet. Der Chef des französischen Generalstabs verlangte nach Beweisstücken, dass die Kanonen städtisches Eigentum seien. Bürgermeister Krukenberg sagte: „Die Unterlagen werde ich baldigst herbeischaffen, doch müssen sie erst herausgesucht werden. Im Übrigen sind auch schon die anderen Herren Generäle und Oberst Dessaix mit der Frage befasst und alle sind einhellig der Meinung, dass die Stücke als Stadteigentum „unverletzt“ bleiben müssen“. Die Sicherheit der Sprache des Bürgermeisters Krukenberg verletzte den Chef und gereizt gab er zur Antwort: „In Artillerieangelegenheiten entscheidet nur mein General, kein anderer! Es bedarf nur eines kurzen Berichts und Ihre Kanonen wandern aus der Heide an die Ufer der Seine.“ Am nächsten Abend erschienen die Offiziere erneut, um die Schriftstücke wegen des Eigentumsrechts einzusehen. Krukenberg war es unangenehm, dass er sie nicht vorlegen konnte und verwies noch einmal auf die anderen Generäle und den Oberst.

Der Artillerieleutnant stellte fest, dass neun Kanonen zur Deckung von Stadtkriegsschulden verkauft worden waren.

Der Chef stieß Drohungen aus, nur sein General sei in artilleristischen Dingen allein maßgebend. Er sei in seinem Leben noch nie so grob behandelt worden, und so verließ er in äußerster Erregung die Unterredung. Am nächsten Morgen reiste er ab. So kam es, dass General Dulauloy den Ortskommandanten anwies, sich der Lüneburger Wallkanonen zu bemächtigen und sie nach Hannover zu schaffen. Nach weiteren entgegenkommenden Verhandlungen des Magistrats und dem Landrat von Meding als Mittler befriedigte man den verstimmten Oberstleutnant Mongenet mit seinen Tafelwünschen, bedachte ihn mit 50 Flaschen ausgesuchten Weines und hielt den General Dulauloy selbst durch Schenkung eines trefflichen Pferdes bei guter Laune. Die Wogen schienen geglättet und die Kanonen blieben in Lüneburg an Ort und Stelle. Als jedoch am 20. Dezember das Landesdeputationskollegium Dulauloy eine Einladung abschlug und zum andern eine schriftliche Anerkennung des Eigentumsrechtes der Stadt Lüneburg von ihm verlangte, antwortete dieser wütend: „Die Kanonen sind mein nach Kriegsrecht!“ Freundlichere Beziehungen zum General kamen dann wieder durch Erstellung eines gewünschten Unterstellraumes für die französischen Kanonen und Artilleriefahrzeuge. Man fand dafür die Schäferei „Zum Korbe“ nebst Wohnhaus und Scheune am Salineneck am heutigen Kurpark. Von einem Posten bewacht blieben sie dort, bis sie im September 1805 südwärts in den Krieg zogen. Nach dem Weggang des Mongenet wurde in der Ratssitzung vom 21. Februar 1804 der Beschluss gefasst, die Wallkanonen ohne großes Aufsehen zu zer­sägen und zu Geld zu machen. Der städtische Artillerieleutnant Sander wurde vom Rat damit beauftragt, im Visculenhof einen Raum herzurichten, in den die drei Geschütze der Aschenkuhle am 26. Februar abends gebracht werden sollten. Leider vergaß man, die militärischen Befehlsstellen in diesen Plan einzuweisen. Unglücklicherweise ging um diese Abendstunde ein französischer Husarenoffizier über den Wall und schlug Alarm. Am 3. März bot Lüneburg ein kriegerisches Bild: Laurent brach mit Gewalt den Visculenhof auf und führte die Kanonen durchs Rote Tor zur Schäferei. Eine nach der anderen wurde aus den Batteriestellungen auf den Wällen gezogen und wanderte unter Schutz von Husarenpatrouillen „Zum Korbe“. In Hannover ließ der General Eble den Metallwert der Lüneburger Kanonen auf 25.000 Francs veranschlagen. Abzüglich der Transportkosten blieben noch rund 13.000 Francs Gewinn, berichtete am 12. April 1804 Ober­general Dessolle an die französische Regierung: „Das Opfer Frankreichs ist nicht groß, wenn es der Stadt Lüneburg die Kanonen lässt.“ Der erste Konsul entschied jedoch gegen Lüneburg. Die 21 Kanonen traten die Reise an und über den Rhein nach Frankreich.

Foto: Hajo Boldt