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Andalusische Andacht

geschrieben von Rüdiger Albert im März 2013

Wie kaum ein anderes alkoholisches Elixier ist Sherry zu einem Getränk geworden, das sich sozusagen von selbst versteht – mit der Selbstverständlichkeit eines Klassikers, der auf seine ganz eigene, dezente Art und Weise Feintrinkern ein stillvolles Image vermittelt. Fast wie im Film …

Verewigte Berühmtheiten: ein Fass zum 80. Geburtstag von W. Churchill

Wenn die Glut der Sommersonne vom strahlend blauen Himmel Andalusiens brennt und sich die Reben der niedrigen Rebstöcke sanft im afrikanischen Wüstenwind wiegen, wenn die weißen Kalkböden, die „Albarizas“, wie Spiegel die gleißende Helligkeit refl ektieren, dann ziehen sich die Jerezanos zufrieden zur Siesta zurück, genehmigen sich (na was wohl?) ein Gläschen gut gekühlten Fino und stoßen an – und das spätestens um 11 Uhr vormittags – auf ihre erfolgreichen Klassiker, die andalusisches Lebensgefühl und einen Hauch der sengenden Sonne Südspaniens in die ganze Welt tragen. Die Geschichte des Sherrys begann, wie es sich für einen Klassiker gehört, nicht vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten, sondern vor Jahrtausenden. Schon die Herren des römischen Weltreiches waren mehr als angetan, und der Dichter Martial verehrte geradezu schwärmerisch den Wein aus Ceret, dem heutigen Jerez de la Frontera.

Auch das agile Seefahrervolk der Briten und ihre gleich gesinnten Kollegen vom Festland, die Niederländer, erkannten früh das Handelspotential des Vino de Jerez und seine inspirierende Wirkung auf Dichter und Genießer. Im 14. Jahrhundert schilderte etwa der englische Dichter Geoffrey Chaucer augenzwinkernd den Wein von Lepe in der Nähe von Jerez, der so stark sei, dass schon drei Schlucke ausreichten, um den Trinker vergessen zu lassen, ob er sich in Andalusien, Bordeaux oder daheim im Bett befände …

Auch heute noch ist Großbritannien zusammen mit den Niederlanden Hauptabnehmer der sinnlichen Köstlichkeit aus dem heißen Südspanien. Immerhin, mehr als fünf Millionen Liter weihen auch den Alltag in deutschen Weinstuben. Aber – kaum ein anderer großer Wein wird durch Unkenntnis und unsachgemäße Handhabung mit akribischer Regelmäßigkeit so verstümmelt wie Sherry. Das enorme Angebot an Billigsorten und die Erfahrung, dass diese fast immer gleich schmecken, hat bislang kaum ein gestandenes Qualitätsbewusstsein in Sachen Sherry aufkommen lassen. Erfahrene Sherrykenner sind noch recht selten.

Ein Fino oder Amontillado wird in der Regel als Aperitif vor dem Essen gereicht und ein Oloroso oder süßer Cream-Sherry gelegentlich zum Nachtisch – so schreibt es die Gewohnheit in deutschen Landen vor. Dies bedeutet aber Verzicht auf zusätzliche Freuden, die das vielseitigste Produkt der europäischen Weinkultur bereiten kann. Ein Fino oder ein Manzanilla zu Meeresfrüchten und Fisch – auch geräuchertem! –, ein staubtrockener Amontillado zu Gefl ügel oder Wild und ein Oloroso zum Käse sind nur wenige Beispiele für die Harmonie von Küche und Sherry. Schöner noch: Sherry kann auch eine Solo-Rolle spielen; als Alternative zum Likör oder zu Hochprozentigem; besonders dann, wenn er zu den Raritäten zählt: Olorosos von Lustau und Byass, Palo Cortado von Domecq oder auch Pedro Ximinez Spezial Reserve von Marquéz Del Real Tesoro. Diese Prestige-Weine reifen bis zu 50 Jahre in den Fässern.

Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts war Sherry ein aus der Palomino-Traube gekelterter, aufgespriteter Jahrgangswein, dem viele Jahre im Fass einen typischen Alterston verliehen. Die Engländer entdeckten ihn zuerst – für sich – und holten ihn nach London und Bristol, stapelten ihn fassweise in den Hafendocks in riesigen Weinkellern und beglückten mit dem spanischen Wein den geborenen und den Finanzadel. Sie gaben ihm auch den uns geläufi gen Namen: Da der andalusische Herkunftsort Jerez de la Frontera nur schwer über englische Zungen glitt und als prägnante Bezeichnung ohnehin zu lang war, anglisierten die Briten umstandslos seinen alten arabischen Namen von „Scheris“ zu „Sherry“.

Die Vielfalt der Entwicklungsmöglichkeiten junger Palomino-Weine bei der Fassreifung warf jedoch Probleme auf. Manche Sherrys bildeten auf ihrer Oberfl äche eine Kahmschicht aus speziellen Hefen, die „fl or“ („Blume“); andere nicht und wieder andere nur für kurze Zeit. Jedes einzelne Fass enthielt damals somit einen beinahe einzigartigen Wein. Originell, aber seine endgültige Qualität nach Abschluss der Reife war leider nur sehr schwer voraussagbar. Diese für den Sherry so typischen Verhältnisse haben zur Entwicklung und zur Perfektion eines Systems beigetragen, das immer gleich hohe Qualitäten der jeweiligen Sherrytypen hervorbringt.

Die Sherry-Winzer legten vor knapp zweihundert Jahren mit dem „Criadera-Solera-System“ den Grundstein zu einem Ausbau, der heute – neben der typischen „fl or“ – das zweite Charakteristikum der Weine von Jerez darstellt. Die „Solera“ besteht aus einer Anzahl von Fässern, die alle Weine der gleichen Qualität enthalten. Sie befi nden sich in der untersten Reihe eines Fassstapels, welches sich aus sechs oder sieben übereinander stehenden Lagen zusammensetzt. Aus der „Solera“ wird der Wein in Flaschen gefüllt und aus der darüberliegenden Fassreihe die gleich Menge nachgefüllt. Diese wiederum erhält die gleiche Menge aus der nächst höheren Reihe und so weiter.

Die Fässer, die über der Solera aufgebaut sind, bilden die „Criadera“, deren oberste Reihe die Kellermeister jeweils mit jungem Jahrgangswein auffüllen. Aus einer Solera, der unterste Fassreihe im Stapel, wird im Jahr nur höchstens ein Viertel des jeweiligen Fassinhaltes abgezogen. Damit wird dem aus der untersten Criadera-Reihe stammenden Wein ausreichend Zeit gegeben, sich an seine Umgebung zu „gewöhnen“, das Bukett und das Aroma der Solera anzunehmen. Das Stufenverfahren des Solera-Criadera-Systems ermöglicht den verschiedenen Handelshäusern im Sherrygebiet, über Jahre hinweg gleich bleibende Qualitäten zu liefern.

Der Sherry-Spaß ist hiermit aber noch keineswegs beendet: Bei der Reifung im Criadera-Solera-Verfahren entstehen zwei Weingrundtypen, die Stammväter aller weiteren Sherrysorten: Fino und Oloroso. Fino-Fässer füllen die Sherry-Winzer nicht spundvoll. Ein Luftraum regt bei einem Fino nach Abschluss der alkoholischen Gärung auf der Weinoberfl äche innerhalb des Fasses die „Blume“ an. Sie ist der Grund dafür, warum man einen Fino mit reinem Weinalkohol aufspriten muss. Die „fl or“ gedeiht am besten bei einem Alkoholgehalt von 14,5 bis 15,5 Volumenprozent, etwas darüber stirbt sie bereits ab. Die mitunter mehrere Zentimeter dicke Hefeschicht schützt den Wein vor Sauerstoff. Er oxidiert nicht und bleibt strohgelb. Eine Sonderform des Fino ist die „Manzanilla“ aus der Hafenstadt Sanlúcar de Barrameda. Beide, Fino und Manzanilla, sollten eisgekühlt serviert werden. Eine angebrochene Flasche darf eigentlich nicht länger als drei Tage im Kühlschrank aufbewahrt werden. Wer wirklich sicher gehen will, dass er das frische Original in der Flasche hat, erkundigt sich bei seinem Händler nach dem Abfülldatum. Wenn es mehr als sechs Monate zurück liegt, sollte man die Finger auch vom günstigsten Angebot lassen.

DIE GESCHICHTE DES SHERRYS BEGANN NICHT VOR JAHRZEHNTEN ODER JAHRHUNDERTEN, SONDERN VOR JAHRTAUSENDEN.

Oloroso-Sherrys („oloroso“ bedeutet „wohlriechend“) bilden während ihrer Reifung nur sehr wenig oder überhaupt keine „fl or“. Sie sind daher von Anbeginn dem Kontakt mit Sauerstoff ausgesetzt, d.h. ihr Ausbau erfolgt oxidativ. Sie werden im Allgemeinen frühzeitig mit Weinalkohol auf 17,5 bis 20 Volumenprozent aufgespritet. Damit wird verhindert, dass das Florwachstum zu einem späteren Zeitpunkt beginnt. Ein Oloroso ist, je nach Alter, mittel bis dunkelbraun. Eine besonders seltene Spielart des Oloroso ist „Palo cortado“ (Tipps, weil in Deutschland erhältlich: „Sibarita Very Pale Palo Cortado“ aus dem Hause Domecq und „V.O.R.S. 30 Anos Oloroso Seco Sibarita“ aus dem Hause Osborne). Diese reifen Sherrys schmecken am besten bei einer Temperatur um 18 Grad. Hinweis: Obwohl sie bei geschlossener Flasche sehr lange haltbar sind, verlieren sie geöffnet innerhalb kurzer Zeit ihr Bukett.

Der Amontillado Sherry stellt eine Mischform aus Fino und Oloroso dar. Sein Name leitet sich von der andalusischen Stadt Montilla ab, wo dieser Sherrystil erfunden wurde. Ein Amontillado ist ursprünglich ein Fino, dessen „fl or“ nach einer gewissen Ausbauzeit durch Zugabe von weiterem Alkohol „abgetötet“ wird. Danach erfolgt dann der einem Oloroso entsprechende oxidative Ausbau. Die Amontillados sind die vielleicht komplexesten Sherrys, ihre Farbe schwankt zwischen Goldgelb und Bernsteinfarbe, im Bukett erkennt man den Fino wieder, auf der Zunge entwickeln sich meist schöne Nusstöne. Ein Amontillado schmeckt leicht gekühlt am besten. Für seine Flaschenlagerung gilt das Gleiche wie für Oloroso.

Alle hier beschriebenen Sherrys sind von Natur aus meist trocken und rar.

Wer wissen möchte, wie solch flüssig geworden andalusische Zeit schmeckt, schaut sich „The Limits of Control“ an – ein Meisterwerk von Jim Jarmusch. Der Film beginnt und endet am Flughafen, und dazwischen zeigt er einen Mann, der sich wie ein Außerirdischer durch das sommerliche Spanien bewegt, von Madrid nach Sevilla, von Sevilla in ein Dorf in den andalusischen Bergen. Bevor es wieder zurückgeht, begegnet der Mann Tilda Swinton. Sie ist gekleidet mit einem weißen Trenchcoat und weißem Hut. Die Haare platinblond, die Lippen knallrot stolziert Frau Swinton mit 15er High Heels über das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes mit einer Grazie und Anmut, von der Topmodels auf blanken Laufstegen allenfalls zu träumen wagen. Jarmusch zeichnet ein poetisches Gemälde von Andalusien: Tilda als cineastische Installation, die zur Andacht zwingt – eben wie die vinologische Installation aus Andalusien. Und wirklich: Manch alte Sherrys, in denen noch Tropfen aus dem vorletzten Jahrhundert sind, zwingen zur Andacht — wie beim Anblick von Tilda Swinton auf andalusischen Pflastersteinen. Solch einem Sherry den Korken zu ziehen, schafft Freude und Freunde und ein gemeinsames Erlebnis, das keiner mehr vergisst – sein ganzes Leben lang. (ra)

FOTOS: NORBERT SCHNEIDER