Magazin über das Leben in Lüneburg
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Gedenkort Leuphana Teil 1

geschrieben von Prof. Dr. Werner H. Preuss im Mai 2013

Der Campus der Leuphana Universität hat viele gravierende Wandlungen erfahren und ist heute ein Gedenkort für mehr als 80 Jahre deutscher Geschichte von starker symbolischer Kraft. Im vergangenen Wintersemester hat eine Gruppe von Studierenden im Projekt „Friedens­pfad“ beschlossen, sich dieser nicht zu übersehen­den Tatsache offensiv zu stellen und die Geschichte der Scharnhorstkaserne/des Leuphana-Campus zu erforschen. Das Ergebnis soll in einer ständigen Ausstellung im zukünftigen Zentralgebäude zu ­sehen sein, welches künstlerisch-architektonisch ja schon auf die Kasernenbauten reagiert. Der Campus war immer ein Ort junger Menschen – doch welcher Unterschied zwischen dem Leben der Rekruten früher und dem der Studierenden heute!
Bevor man mit der Forschung beginnt, ist ein Moment der Selbstbesinnung wichtig. Wer sind wir, was wollen wir erreichen? Deutscher zu sein, bringt gegenwärtig in der Welt viele Vorteile mit sich. Wir leben in Frieden in einem Rechtsstaat, genießen die Grundrechte, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, relative Gleichberechtigung der ­Geschlechter, erhalten Schulbildung, sind krankenversichert, müssen nicht hungern, haben Zugang zu sauberem Wasser und besitzen einen Reise­pass mit dem wir problemlos in beinahe jedes Land der Welt fliegen können. Gewiss, die Anteilnahme an diesen positiven Errungenschaften ist in unserem Land ungleichmäßig verteilt, insgesamt geht es uns aber ohne Zweifel besser als den meisten Menschen auf diesem Globus. Für die positiven Lebensbedingungen können wir zunächst persönlich nichts; wir werden in sie hineinge­boren, auch in die Geschichte, die mit diesem Land und diesem Volk verbunden ist.

Der Campus war immer ein Ort junger Menschen – doch welch ein Unterschied zwischen dem Leben der Rekruten einst und dem der Studierenden heute!

Wir Nachkommen können nichts für sie, wir können sie aber auch nicht ablegen. Sie gehört zu uns wie der Personalausweis und die Vorzüge, die wir als Deutsche genießen. Doch indem wir Lehren daraus ziehen, können wir der Geschichte noch eine Wendung zum Guten geben. Das ist das Ziel des Projekts „Friedenspfad“ der Friedensstiftung Günther Manzke.
Bis vor etwa 20 Jahren herrschte in Lüneburg eine ganz andere Atmosphäre als heute: Es war eine ausgesprochene Soldaten- und Beamtenstadt. Als der Abzug der Briten aus Lüneburg und die deutsche Wiederbewaffnung anstanden, schrieben Oberbürgermeister Gravenhorst und Oberstadtdirektor Böttcher am 24. April 1957 an den Bundesminister der Verteidigung: „Lüneburg hat keine Garnison, Lüneburg ist eine Garnison!“ Sie erklärten forsch: „Ohne Klagelieder anstimmen zu wollen, glauben Rat und Bürger jedoch, nach zehn Jahren Besatzungsregime und weiteren zwei Jahren unter dem Truppenvertrag einen moralischen ‚Wiedergutmachungsanspruch‘ auf Zuweisung einer deutschen Garnison erworben zu haben.“
Die neuere Lüneburger Geschichte war wesentlich durch das Militär geprägt. In einem Entwurf des Briefes vom 11. März 1957 erläuterten Gravenhorst und Böttcher: „Bereits 1772 war Lüneburg Garnison des fünften Hannoverschen Infanterie-Regiments. Von 1849 bis 1866 lagen hier ein Infanterie-Re­giment, ein Kavallerie-Regiment und zwei Brigadestäbe. 1871 rückte das Dragoner-Regiment 16 in Lüneburg ein und fasste hier bald festen Fuß.“ Nach dem 1. Weltkrieg wurde Deutschland weitgehend demobilisiert, auch Lüneburg. Als gegen Ende der 1920er Jahre die Wirtschaft hier wie vielerorts daniederlag, hohe Arbeitslosigkeit herrschte (im Dezember 1932: 21%) und sehr viele Handwerksbetriebe nicht einmal das Existenzminimum erwirtschafteten, versprachen die Nationalsozialisten Abhilfe, und das Mittel ihrer Wahl hieß „Rüstungskonjunktur“.

Nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935 bemühte sich die Stadtverwaltung mit allen Kräften, Militär nach Lüneburg zu ziehen. Kreishandwerksmeister Straßberger skizzierte damals in einer Denkschrift, welche wirtschaftlichen Vorteile für Handel, Gewerbe und Handwerk zu erwarten seien: „Ein spürbarer Aufschwung wird besonders das Nahrungsmittelgewerbe davon haben. Der Umsatz im Kolonialwarenhandel, bei den Schlachtern, Bäckern und verwandten Betrieben wird sich durch den erhöhten Bedarf der Truppe wirksam vermehren. Bei den für eine größere Belegung nicht ausreichend vorhandenen Kasernen würde sich für mindesten zwei Jahre bei den erforderlichen Neubauten für das gesamte Baugewerbe eine reiche Einnahmequelle auftun, bei welcher sie nicht wie häufig bei Privataufträgen das sich ergebende finanzielle ­Risiko zu tragen hätten. […] Aber auch das Be­kleidungsgewerbe, darunter Manufakturwaren­geschäfte, Schneider und Wäschegeschäfte, des weiteren Schuhgeschäfte und nicht zuletzt Gaststätten, Vergnügungslokale, Lichtspieltheater würden einen bemerkenswerten Aufschwung bekommen. Mit der Vermehrung der Garnison würde eine beträchtliche Anzahl von Offizierfamilien, daneben Militärbeamte als neuer Kundenkreis nach Lüne­burg kommen. Die jährlich von der Standortverwaltung ausgeschriebenen Verdingungen für Fleisch und Kolonialwaren könnten bei einer vermehrten Belegung auf eine größere Anzahl von Lieferanten verteilt werden. Da neuerdings sich das Material der Reichswehrangehörigen aus allen Kreisen unseres Volkes wieder zusammensetzt, auch die wohlhabenden Kreise ihre Söhne wieder zum Militär schicken, ist auch mit häufigen Besuchen der Angehörigen zu rechnen. Diese Besucher werden nicht nur die Gaststätten aufsuchen, sondern auch bestimmt in den hiesigen Geschäften die Einkäufe tätigen, zum Beispiel Extra-Garnituren [Unterwäsche], Wäsche, Stiefel und dergl. mehr, die ihre Söhne während der Dienstzeit gebrauchen. Es ist sogar wahrscheinlich, dass sie bei dieser Gelegenheit bei der Güte der hiesigen Geschäfte auch ihre privaten Einkäufe im Bedarfsfalle hier eindecken.“ Eine kurzsichtige Politik versuchte damals eine kleine Katastrophe abzuwenden, indem sie eine große vorbereitete. Der Ausdruck „Material der Reichswehrangehörigen“ lässt die Unmenschlichkeit des kommenden Krieges schon erahnen.

Eine Besprechung zwischen Vertretern des Reichswehrfiskus und der Stadt unter Leitung von Bürger­meister Mohrmann legte am 5. August 1935 die wichtigsten Punkte des Vertrages fest. Lüneburg sollte 2.100 Mann und 350 Pferde Infanterie, 2.100 Mann und 800 Pferde Kavallerie, 700 Mann und 450 Pferde Artillerie erhalten, die Gesamtbelegung aufgerundet 5.000 Soldaten und 1.600 Pferde betragen. Die Stadt verpflichtete sich, das Gelände der neu zu bauenden Kasernen an der Bleckeder Landstraße und auf dem „Schnellenberger Kamp“ – so hieß damals das Gelände des heutigen Leuphana-Campus – unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, mit Kanalisation, Gas, Wasser und Strom zu erschließen und den „Schwarzen Weg“ für mittelschweren Verkehr auszubauen. Er wurde am 17. März 1936 in Scharnhorststraße umbenannt. Die städtischen Investitionen waren gewaltig, doch man hoffte, dass sie als Steuereinnahmen bald wieder in den Haushalt zurückfließen würden.

Bis vor etwa 20 Jahren herrschte in Lüneburg eine andere Atmosphäre als heute:Sie war eine ausgesprochene Soldaten- und Beamtenstadt.

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war die sandige Gegend im Süden Lüneburgs vermutlich unbebautes Heideland. Nach dem 1. Weltkrieg verpachtete die Stadt alle ungenutzten Flächen zur Verbesserung der Ernährungslage als Kleingärten, in denen Arbeiter und Angestellte Kartoffeln und Gemüse anbauten. Auch Kleingewerbe und eine Sandgrube gab es bis zum Beginn der 1930er Jahre noch auf dem „Schnellenberger Kamp“. Er lag „im besten Wohnbaugebiet“, wie Stadtbaurat Dr. Otto Kleeberg 1947 feststellte, denn die vorherrschenden Südwestwinde bliesen alle Industrieabgase nach Nordosten aus der Stadt. Noch 1925 plante man daher im Gebiet zwischen Soltauer und Uelzener Straße ein Villengebiet wie im Roten Feld. Nun wurden in kürzester Zeit gleichzeitig mehrere ausgedehnte Kasernenkomplexe mit den dazugehörigen Wohnungen für Berufssoldaten in Lüneburg errichtet. „Das gesamte Heeres-Neubauprogramm stand unter großem Zeitdruck. Die Terminvorgaben waren für alle Betroffenen so belastend, dass kaum ein Tag ohne Überstunden-Leistungen verging“, erinnerte sich später Hermann Garbers, der damals in der Bauleitungsbaracke an der Uelzener Straße tätig war. Nach weniger als vier Monaten Bauzeit feierte man am 2. Dezember 1935 das Richtfest der Infanteriekaserne, und schon am 3. Oktober 1936 wurde sie mit großem Pomp von zwei Bataillonen des Infanterieregiments 47 bezogen. Nachdem auch der Flieger­horst (heute Theodor-Körner-Kaserne) für das Kampf­geschwader 26 fertiggestellt und mit 8 Staffeln belegt worden war, zählte Lüneburg bei Kriegsbeginn zu den größten norddeutschen Garnisonsstädten. Von ca. 35.000 Einwohnern waren damals etwa 6.000 Soldaten. Rechnet man die Ehefrauen der Berufssoldaten hinzu, so betrug die Zahl der Militärangehörigen mehr als ein Drittel der gesamten erwachsenen Bevölkerung (weniger als 20.000 Personen)!

Unfassbar ist heute die Begeisterung, mit welcher die Soldaten in Lüneburg empfangen wurden. Doch hatte man sich verspekuliert; in dem erwähnten Brief, in welchem Oberbürgermeister Gravenhorst und Oberstadtdirektor Böttcher 1957 die Zuweisung von Bundeswehreinheiten nach Lüneburg verlangten, erklärten sie:
„Die Verlegung erheblicher Truppenkontingente nach Lüneburg im Zuge der Aufrüstung stellte unsere industriearme Mittelstadt vor gewaltige Aufgaben. Die Bereitstellung von Gelände, der Bau von Straßen, Kanälen und Familienwohnungen konnte nur auf dem Darlehenswege geschehen. Der hierdurch entstandene Schuldendienst drückt uns noch heute, und die Hoffnung, das investierte Kapital durch eine Ankurbelung der heimischen Wirtschaft verzinsen zu können, zerbrach mit dem Ausgang des 2. Weltkrieges.“
Das Los der Soldaten, des „Materials“ der Wehrmacht, war es, zu töten und zu sterben. Ein großer Teil der geplanten Ausstellung soll diesem Kapitel gewidmet sein. Die Einsatzorte des Infanterie-Regiments 47 erstreckten sich von den Niederlanden (1940) über Rumänien bis nach Sewastopol auf der Krim, wo 1941/42 allein 1.569 Kameraden umkamen. Mit „Reserveeinheiten“ wieder „aufgefüllt“ marschierten die Bataillone der Scharnhorstka­serne weiter nach Nordafrika. Nachdem das Regiment im Mai 1943 dort kapituliert hatte, wurde es im Frühjahr 1944 auf Kreta neu aufgestellt. Von dort aus ging es weiter nach Griechenland und Jugoslawien, wo es vermutlich auch an Kriegsverbrechen beteiligt war. Erst am 11. Mai 1945 war für die letzten Angehörigen des Infanterie-Regiments 47 der Krieg vorbei.
Die Aufarbeitung des Gedenkorts Scharnhorstka­serne/Leuphana-Campus hat erst begonnen, doch ist sie von großem öffentlichem Interesse. Jetzt sind Hansestadt und Universität – die Erben der Geschichte – gefragt, die Erforschung und Dokumentation räumlich und finanziell zu ermöglichen.

Fotos: Sammlung Michael Bartels, Sammlung Hajo Boldt,Sammlung Manfred Messer

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