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Gedenkort Leuphana Teil 2

geschrieben von Prof. Dr. Werner H. Preuss im Juni 2013

Am 8. Mai 2011 waren etwa 400 Menschen auf dem Campus Zeuge eines historischen Ereignisses, das auf ein noch bedeutungsvolleres Bezug nahm: Für die zeremonielle Grundsteinlegung des Zentralgebäudes wurde bewusst der Tag gewählt, an dem man in aller Welt der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und der Befreiung vom Terror des Nationalsozialismus gedenkt. Mit dieser symbolischen Geste wollten Präsidium und Architekt den „Kontrapunkt“ unterstreichen, den das geplante Zentralgebäude als Gegenstimme gegen die Kasernenarchitektur setzen soll. In seiner Ansprache betonte Daniel Libeskind: „Ein solcher Vorgang heilt nicht durch Vergessen, sondern durch das Schaffen von Bewusstsein für öffentlichen und sozialen Raum. Ein solches Gebäude ist sehr konkret und lebendig für Lüneburg, und die Studierenden werden dieses Bild in die Welt hinaustragen“.
Symbolische Handlungen gehören der Sphäre des Kultus an, d. h. der religiösen Praxis und der Kunst. Sozialen Raum zu schaffen ist eine politische Angelegenheit. Der Wissenschaft obliegt dagegen, historische Sachverhalte zu ergründen und sichtbar zu machen. Sie gebietet nicht nur ganz allgemein dem Vergessen symbolisch Einhalt, sondern sorgt für das Erinnern an konkrete Fakten. Viele große deutsche Unternehmen stellen sich seit einigen Jahren ihrer Vergangenheit und beauftragen Historiker mit einer detaillierten Aufarbeitung ihrer Geschichte. Auch für die Leuphana Universität ist das unerlässlich. Im vergangenen Wintersemester hat eine studentische Arbeitsgruppe – Jana Meyer, Bente Moelck, Lara Predki, Jan Reichardt und Steffanie Schröder – unter meiner Leitung begonnen, die Vergangenheit des Campus im Kontext der Militär-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Lüneburgs zu erforschen. Unser Ziel ist es, die Ergebnisse in einer Dauerausstellung im künftigen Zentralgebäude der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Auftrag steht noch aus.

Mit Nationalsozialismus und Krieg möchte man nichts zu tun haben. Doch die Wehrmachtssoldaten waren nicht die „Anderen“, die uns ganz fremd sind! Am Beispiel des Infanterie-Regiments 47 kann man studieren, wozu Menschen in einem Krieg fähig sind und was sie erleiden. Darüber hinaus kann man lernen, was ein totalitäres System bedeutet: eine Mischung aus Brutalität und Verführung, in der es nichts Naives, nichts Harmloses mehr gibt. 1941 wurden zwei ältere Rekruten zum „Landesschützen-Ersatz-Bataillon 10“ eingezogen, welches die Reihen der Toten des Infanterie-Re­giments 47 wieder auffüllen sollte. Oberschütze (zweitniedrigster Dienstgrad) Otto Tenne (1904 –
1971) arbeitete seit 1930 als Komponist in Hamburg für den Rundfunk und leitete dort von 1933 bis 1941 die „Niederdeutsche Singschar“.

Sozialen Raum zu schaffen ist eine politische Angelegenheit. Der Wissenschaft obliegt dagegen, historische Sachverhalte zu ergründen und sichtbar zu machen.

Älteren ist er noch durch seine Beiträge zur NDR-Hörfunk­reihe „Hör mal’n beten to“ und als Autor plattdeutscher Bücher („Wat ick noch segg’n wull“) in Erinnerung. Gemeinsam mit dem Schützen (einfacher Soldat) Willi Grube, Maler und Bühnenbildner, geboren um 1910 in Bremen, arbeitete er in der „Truppenbetreuung“. Am 9. Oktober 1941 über­nahmen sie das Kulturprogramm zur Eröffnung eines neueingerichteten Gemeinschaftsraumes. Für Ehren­gäste wie Lüneburgs Oberbürgermeister Wilhelm Wetzel malte Willi Grube Einladungskarten mit heiteren Figuren: Herold, Musiker, Maler, Vorleser, Schauspieler und Dichter. Gestaltet wurde der Abend „von der Hausmusik und dem Soldaten-­Singkreis“ des Bataillons. Unter Leitung von Otto Tenne spielte man Werke von Gluck und Haydn sowie ein eigens zu diesem Anlass komponiertes „Lüne­burger Flötenspiel“. Dazwischen Lieder und Sprüche von verschiedenen Verfassern. Unter anderen Umständen wäre ein solcher Hausmusikabend mit anschließendem Biertrinken in dunklem Anzug oder Uniform eine harmlose, erbauliche Zusammenkunft gewesen. Doch im totalitären System ist alles ideo­logisch infiziert. Der Dichter Hermann Claudius (1878 –1980), Urenkel des liebenswerten „Wandsbecker Boten“, stand dem Nationalsozialismus nahe. Sein „Lied vom neuen Reich“ beginnt mit der Strophe: „Wir wollen ein starkes einiger Reich für uns und unsere Erben. Dafür marschieren wir, ich und du, und hunderttausende dazu. Und wollen dafür sterben.“ Wie Claudius war Karl Bröger (1886 –1944) ursprünglich Sozialdemokrat. Als Verfasser von Kriegs­lyrik im 1. Weltkrieg wurde auch er von den Nazis hochgeschätzt. Heinrich von Treitschke (1834 –
1896) war ein antisemitischer Historiker und Verfasser „Vaterländischer Gedichte“. Die „geistige Betreuung der Landesschützen“ bestand also weniger darin, den Soldaten einen Augenblick des Friedens zu verschaffen, als sie vielmehr für den Krieg gegen die angeblich kulturlosen Völker im Osten psychologisch aufzurüsten. Dolf Sternberger (1907 –
1989) hat 1957 in seinem „Wörterbuch des Unmenschen“ pointiert formuliert, was der Begriff im Nazi-Sprachgebrauch bedeutete: „Die Betreuung ist diejenige Art von Terror, für die der Jemand, – der Betreute – Dank schuldet.“

1943 malte Willi Grube, inzwischen Gefreiter (drittniedrigster Dienstgrad), den soldatischen Feierraum in der Scharnhorstkaserne mit einem monumentalen Wandgemälde aus. Davon berichtet Otto Tenne am 20. Februar 1943 in den Lüneburgschen Anzeigen. Vermutlich handelt es sich um Raum 102 in Gebäude 9. Denn der durch ein Zeitungsfoto überlieferte Ausschnitt des Bildes lässt sich ohne Schwierigkeit in eine aktuelle Aufnahme montieren. Der Raum hat die entsprechende Größe, ist mit einem Speisenaufzug aus der Küche versehen und besitzt zwei Türen, von denen die rechte, die außen an den breiten Rahmen anschlägt, ins Treppenhaus führt. Mit einem Vorhang innen, wie auf dem Foto, bildete sie eine Wärmeschleuse. Unter der Rau­fasertapete und den alten Anstrichen des Seminarraums über dem „Cafe Neun“ ist das Gemälde wohl noch erhalten. Es erstreckte sich über drei Wände, deren längste allein 15 Meter misst, und zeigte Episoden aus dem Leben Kaiser Friedrich I. Barbarossa und Herzog Heinrich des Löwen. „Die beherrschenden Farbtöne sind Rot, Gelb und Grün, und ihre Behandlung erinnert an die Eigenart der Manessischen Handschrift“, der größten mittelhochdeutschen Liedersammlung mit 137 ganzseitigen Buchmalereien. Auf dem Foto der Längswand ist links oben die Legende der treuen Weiber von Weinsberg 1140 zu sehen, die ihre Männer schultern und ihnen damit das Leben retten. Unten wird der „Wendenkreuzzug“ dargestellt, den Heinrich 1147 gemeinsam mit Albrecht dem Bären, Markgraf von Brandenburg, führte. In der Mitte zeigt das Bild den Reichstag zu Goslar 1154, darüber das Spruchband: „Heinrich der noch neue Gefolgsmann erhält Bayern“. Rechts davon sieht man, wie Friedrich vor der Krönung zum Kaiser 1155 in Rom die Stola (rituelles Gewand) und das Reichsbanner überreicht bekommt, daneben die huldigenden Fürsten. Rechts oben wird die Niederschlagung des Aufstandes vor der Engelsburg in Rom durch Heinrich thematisiert, zu dem es nach der Kaiserkrönung kam. Auf dem Spruchband daneben steht: „Unter Beistand des Loewen zwingt Barbarossa Rom und Mailand“. Eine der Seitenwände zeigte ferner einen Ausritt Heinrich des Löwen zur Jagd, die andere das Mainzer Hoffest zu Pfingsten 1184, bei dem der alte Kaiser seine Söhne mit großem Pomp zu Rittern erhob. Ideologisch wird das Bild durch den darüber gesetzten Vers interpretiert: „Hinrik de Leuw un Albrecht de Bar darto Frederik mit dat rode Haar, dat waren dree Heren de kunden die Welt verkehren“ (Heinrich der Löwe und Albrecht der Bär sowie Friedrich mit dem roten Haar, das waren drei Herren, die die Welt verändern konnten). Der Spruch kommt so altertümlich daher, als wäre er im Hohen Mittelalter entstanden. Tatsächlich ist er wohl ein Erzeugnis des 19. Jahrhunderts, in dem er als „niederdeutscher Volksreim“ in den Schulbüchern auftaucht. Bei welcher Gelegenheit hätte das Volk diesen Spruch auch anwenden können? Statt „verkehren“ steht gelegentlich „verfehren“, d. h. „das Fürchten lehren“. Denn die drei Helden unternahmen Kreuz­züge, dehnten das Reich nach Osten aus und warfen Aufstände in Italien nieder. Das bildet die Brücke vom Wandbild zum „Unternehmen Barbarossa“, dem Überfall auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Die Besprechung des Gemäldes schließt Otto Tenne mit orakelhaften Worten: „Der neue Feierraum, den Grube seinen Kameraden schuf, wird ein Zeichen kulturschöpferischer Leistung in schwerer Zeit sein, denn der bleibende künstlerische Wert dieser Malereien ist Zeugnis einer Gesinnung, für die Kultur Dienst am Leben bedeutet.“
„Kunst am Bau“ sollten auch die steinernen Soldatenköpfe repräsentieren, die an den Eingängen zu den Wirtschaftsgebäuden angebracht waren. Sie sind auf einer Fotografie des ersten Offizierskorps 1936 vor Gebäude 9 dokumentiert. Die Plastiken an den Gebäuden 3 und 14 sind auf anderen Bildern nur undeutlich zu erkennen. Sie erreichten wohl nicht die Qualität der vergleichbaren Köpfe in der früheren Schlieffenkaserne und wurden vermutlich schon von den Briten entfernt. An einem Universitätsgebäude wären sie heute schwer erträglich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war das unzerstörte Lüneburg Zuflucht für viele, die ihr Zuhause verloren hatten. 1945 musste es zu den rund 41.000 Einwohnern mehr als 19.000 Flüchtlinge aufnehmen. Viele Häuser waren zudem von britischen Dienststellen beschlagnahmschottt worden. Von 1947 an stand jedem Erwachsenen 7 m² Wohnfläche zu. Zuvor galt im übervölkerten Lüneburg ein Richtwert von 4 m² für jeden Erwachsenen und 2 m² für Kinder unter 14 Jahren. Die 12 Mannschaftsgebäude der Scharnhorstkaserne verfügten über 10.620 m² Wohnraum, den die Stadt 1948 von den Briten gerne erhalten hätte. Auch spätere Wünsche nach Schul- und Lazarett-Raum in den Blocks an der Wichernstraße wurden abschlägig beschieden. Das schottische Highland Light Infantry Regiment (HLI) und das englische South-Stafford­shire-­Regiment nutzten die Kaserne bis zur Räumung am 27. Januar 1959. Als die ersten Bundeswehreinheiten am 8. November 1958 in Lüneburg begeistert empfangen wurden, fragte Oberbürgermeis­ter Wilhelm Hillmer das Publikum auf dem Marktplatz: „Was steckt nun hinter diesem Jubel? Lassen Sie mich ganz klar und unmissverständlich aussprechen, was nicht dahinterstecken darf: Kein Wiederaufleben des Militarismus, keine Sehnsucht nach dem Glanz des bunten Tuches und des Ordenssegens. Heute sind Söhne unseres deutschen Volkes eingerückt als Angehörige eines Volksheeres, dessen Aufgabe es ist, die Heimat und ihre Freiheit notfalls mit ihrem Leben zu schützen. Die Bundeswehr ist heute eine verfassungsmäßige Einrichtung

Eine Batterie des Panzerartilleriebataillons 85 ist 1966 auf dem Exerzierplatz vor Gebäude 2 (heute Mensawiese s.u.) angetreten