Kriegswirren
geschrieben von Prof. Dr. Werner H. Preuss im Februar 2013Lüneburg im Kriegsjahr 1813 (Teil 2)

Triumphbögen, Siegessäulen und Reiterstandbilder – Denkmäler dienten bis zur Französischen Revolution allein zur Verherrlichung der Herrscher und Sieger der Geschichte. Ihr Mythos wurde in Stein gehauen und in Bronze gegossen. Die unzähligen Opfer unter den Soldaten und der Bevölkerung der kriegführenden Mächte galten als nicht denkmalwürdig und traten allenfalls als schmückendes Beiwerk der Fürsten und ihrer „Heldentaten“ in Erscheinung. Das änderte sich mit den Napoleonischen Kriegen, welche „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, die Ideen der Französischen Revolution und ihre Errungenschaften, in Europa verbreiteten.
Das Dienstmädchen Johanna Stegen wurde zur „Heldenjungfrau“ und „Lüneburger Jeanne d’Arc“.
Selbstbewusstseins findet sich auch in den Denkmälern seiner Feinde, wie Johanna Stegen, der zupackenden Lüneburger Magd, die am 2. April 1813 zum „Heldenmädchen“ wurde.
An diesem Tag rückte ein russisch-preußischer Heerhaufen auf das von den verbündeten Sachsen und Franzosen unter dem Befehl General Morands besetzte Lüneburg vor. Drei Generäle ritten voran: Dörnberg stand in britischen, Czernicheff (Tschernitscheff) und Benkendorff in russischen Diensten. Ihnen folgten 1750 Mann leichte Reiterei (250 russische Husaren, 1500 Kosaken und Baschkiren) und 740 Mann zu Fuß (300 Mann russische Infanterie und 440 pommersche Füsiliere). Über Leitern, Bretter und Ilmenau-Ewer, die zu Brücken zusammengeschoben wurden, gelang es den Füsilieren, im Norden den Stadtgraben (heute: Lösegraben) zu überwinden, die Bastion am Schifferwall zu erklimmen, in die Stadt einzudringen und den Sachsen in den Rücken zu fallen. Am Abend waren die Truppen des französischen Generals Morand geschlagen, er selbst tödlich verwundet und 2300 Sachsen und Franzosen gefangen. Daran erinnert ein Gedenkstein an der Ecke Am Werder / Reichenbachstraße: „Hier kämpften am 2. April 1813 die ersten Lüneburger freiwilligen Jäger und halfen an der Seite pommerscher Füsiliere den ersten Sieg der Befreiungskriege erringen. Seiner ersten Stammtruppe zum ehrenden Gedenken errichtet am 2. April 1913 vom 5. Hannoverschen Infanterie-Regiment Nr. 165 und seinen ehemaligen Angehörigen.“ Das erste größere Gefecht im „Befreiungskrieg“ endete siegreich – doch nicht allein aus „eigener“ Kraft, denn die Russen hatten mehr als 70 Tote und 100 Verwundete zu beklagen, die Preußen dagegen „nur“ acht Tote und 42 verwundete Offiziere und Soldaten.
Im Laufe der Gefechte wichen Morands Truppen aus Lüneburg nach Reppenstedt zurück und versuchten dann, wieder durch das Neue Tor in die Stadt einzudringen. An diesem Punkt setzt der Mythos „Johanna Stegen“ an.
Das Dienstmädchen hat unter Einsatz ihres Lebens den russischen und preußischen Soldaten sowie Lüneburger Freiwilligen, welche die Neuetorstraße verteidigten, Munition zugetragen, die sie in einem von den „Franzosen“ bei ihrer Flucht zurückgelassenen Wagen gefunden hatte. Um diesen Tatsachen-Stamm begann sich schon bald „der romantische Efeu der Sage“ (Wilhelm Friedrich Volger) zu schlingen, die sie zur „Heldenjungfrau“ und „Lüneburger Jeanne d’Arc“ erhob. „Dabei machen sich die Bewunderer des Mädchens die Sache sehr leicht. Die Preußen, sagen sie, nahmen ihr die Patronen ab, die sie in der Schürze hatte, folglich hatten sie sich verschossen, folglich waren sie in Gefahr, folglich hat Johanna Stegen sie gerettet. Aber der Munitionswagen der Preußen war da, stand nur des Geschützfeuers wegen etwas entfernt. Hätten sie vorübergehend Mangel gehabt, so würde der nächste Offizier sofort Leute geschickt haben, die Patronen aus dem Versteck des Mädchens zu holen und hätte sich nicht auf ein schwaches Mädchen verlassen“, gibt der Chronist Wilhelm Görges zu bedenken. Spediteur Langermann überliefert, dass sich rasch „ein Theil des großen Haufens auf die auf dem Markt zurückgelassenen Proviant-, Munitions- und Bagagewagen der Franzosen“ warf und sie gänzlich plünderte. Wilhelm Görges vermutet, dass auch Johanna Stegen die Patronen gesammelt hat, um sie „für einige gute Groschen zu verkaufen, und erst, als sie sich mitten zwischen Preußen gesehen hat, ist ihr der Gedanke gekommen, sie diesen zuzutragen.“
Ein realistisch wirkendes zeitgenössisches Bild im Museum gibt die Szene wieder.
Sie spielt an der Ecke Am Springintgut (rechts) und Neuetorstraße (geradeaus). Links sieht man den Kalkberg, als Allee im Hintergrund erscheinen Schnellenberger Weg und Dörnbergstraße, rechts ist der Graalwall von Russen und Preußen mit Kanonen besetzt. Anfang April ist die Neuetorstraße noch matschig, die Pappeln sind noch nicht ergrünt. Bei dem Haus in der Mitte befand sich die alte Torwache. Etwa um drei Uhr nachmittags rücken von Reppenstedt (vorne) zwei „Quarrees“ (Kompanien) der Sachsen und Franzosen an, um Lüneburg zurückzuerobern. Im Vordergrund füllt das Dienstmädchen Johanna Stegen etwas (Papierpatronen mit Schießpulver und Bleikugeln) aus einem umgestürzten Fass, das offenbar von dem Leiterwagen links heruntergefallen ist, in ihre Schürze. Neben ihr steht ein Zivilist (oder erst halb uniformierter Soldat des neugegründeten v. Estorff’schen „Jäger-Regiments zu Fuß“) in Frack und Zylinder, der sein Vorderlader-Gewehr lädt.
Aus Anlass der 100-Jahrfeier wurde Johanna Stegen am 2. April 1913 im Liebesgrund (auf dem Absatz des Rodelberges) ein Denkmal aus Muschelkalk gesetzt, das heute am Wallaufgang an der Bastionstraße steht. Entworfen hat es der Bildhauer Karl Gundelach. Die Stele zeigt ihr Bildnis in einem Bronzerelief. Flankiert wird sie links von einem v. Estorff’schen Husaren, rechts von einem v. Estorff’schen Jäger. Wilhelm Görges hielt das Handeln Johanna Stegens dagegen nicht für vorbildlich und denkmalwürdig. Höher achtete er Frauen, die nicht als Partisanen kämpften, sondern im Einklang mit der „Genfer Konvention“ Verwundete aufopfernd pflegten.
Schon am 3. April 1813 zogen die verbündeten Russen und Preußen aus Lüneburg wieder ab, am 4. April war Lüneburg wieder in „französischer“ Hand. Dass nun „nicht namenloses Elend über die Stadt kam, verdankt sie – das wollen wir gern an- erkennen – der Humanität der französischen Befehlshaber, welche das Schicksal der aufrührerischen, erstürmten, späterhin geächteten Stadt in Händen hatten“, schreibt Wilhelm Friedrich Volger.
Bis zum 22. Oktober 1813, als zum letzten Mal französische Soldaten die Kosaken aus der Stadt vertrieben, wechselte noch mehrfach die Besatzung. Nach der „Göhrde-Schlacht“ am 16. September 1813 hatte man schon geglaubt, dass napoleonische Truppen Lüneburg nicht wieder besetzen würden.
„Dass nicht namenloses Elend über die Stadt kam, verdankt sie der Humanität der Französischen Befehlshaber.“

Im Alten Kaufhaus wachte ein Zollamt über die Ein- und Durchfuhr englischer Waren, die damals strengstens untersagt war. Die „Kontinentalsperre“ genannte Verordnung beeinträchtigte das Lüneburger Wirtschaftsleben schwer, das auf dem Speditionshandel basierte. Am 19. September 1813 warf man daher die Akten der verhassten französischen Zoll-Behörde aus dem Fenster und verbrannte sie vor dem Kaufhaus. Nur ein einziges Schild mit der Aufschrift „Bureau des droits d’Entrée et de Sortie“ (Ein- und Ausfuhrbehörde) entging den Flammen. Zwei Tage später wurden die Familien der schon geflüchteten Zoll-Angestellten auf fünf vierspännigen Wagen aus der Stadt geschafft und ins Elend geschickt. „Eine große Menge Kinder, Hunde, Bündel; Schachteln, Pakete füllten die Zwischenräume auf den Wagen aus. Das Ganze gewährte keinen angenehmen Anblick, weshalb sehr viele, die gerührt wurden, den Abgehenden Brot, Branntwein, Äpfel und dergl. brachten, damit sie sich davon auf einige Zeit ernährten“, überliefert Wilhelm Görges. Krieg und Vertreibung gehören offenbar zusammen.
Weiter berichtet er: „Die Lüneburger haben noch im Sommer 1813 Gelegenheit gehabt, rücksichtslose Kriegsführung kennen zu lernen, zuerst die der Franzosen, dann die der Russen, letztere verstärkt durch die Brutalität des Kantschus (Peitsche aus mehreren übereinander genähten, zwei Finger breiten Riemen). Die Begeisterung für die Russen, die im März so gewaltig bei ihrem ersten Erscheinen aufgelodert war, war bald verflogen“. So erhielt der Maire (Bürgermeister) Schmidt aus Hollenstedt am 6. November 1813 „ob seiner französischen Gesinnung“ 200 Hiebe mit dem Kantschu, weil er gesagt hatte, „die Gemeinde brauche dem Militär kein Fleisch mehr zu liefern. Dies war richtig, denn die Quartiersgeber hatten die Beköstigung zu tragen.“ Die Auspeitschung hat er sicher nicht überlebt. Auch Lüneburger sind betroffen. Am 8. Oktober 1813 wird beispielsweise ein Zimmergesell Langlotz „mit verdächtigen Briefen ertappt“. Er „bekommt täglich 50 Prügel.“

Am darauf folgenden Tag erhält Torschreiber Niehaus am Neuen Tore „40 Kantschu-Hiebe, weil in Abwesenheit der verbündeten Truppen die Bewohner das Tor erbrochen hatten.“ Und wie immer gehörten die Frauen zu den Opfern, die mit „dem Feind“ liiert gewesen waren. Am 23. Oktober werden „neunzehn bis zwanzig Huren, die man beschuldigte, mit den Franzosen in Einvernehmen zu stehen, (...) unter Assistenz von einigen Hundert Gassenbuben nach dem Schloss [heute Landgericht am Markt] gebracht, und vor demselben von etwa 30 Kosaken, die in einer Reihe die Treppe hinab standen, mit Kantschu-Hieben bewillkommt.“ Was mag wohl aus ihnen und ihren Kindern geworden sein?
Der „Befreiungskrieg“ brachte nicht die Freiheit. Er gab dem deutschen Volk aber ein Selbstbewusstsein, das sich einerseits in der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 manifestierte, andererseits sich zu einem furchtbaren Chauvinismus insbesondere gegen Frankreich steigerte. Daran mahnen auch die Lüneburger Denkmale.
Aus: Werner H. Preuß: Lüneburger Denkmale,
Brunnen und Skulpturen – Kunst im öffentlichen Raum. Husum 2010
Anmerkung: Im vergangenen Jahr zeichnete die „Friedensstiftung Günter Manzke Lüneburg“ Prof. Dr. Werner H. Preuß und Dr. Michael Ebert, Geschichtslehrer an der Wilhelm-Raabe-Schule, mit dem Friedenspreis 2012 aus. Beide erarbeiten mit Schülerinnen und Schülern bzw. Studierenden das Thema „Erinnerungskultur in Lüneburg“ und konzipieren einen „Friedenspfad“ zu den Denkmälern der Stadt. Quadrat stellt in loser Folge einige von ihnen vor.
Bilder:@
Stadtarchiv Lüneburg / Repro: Preuß
Museum Lüneburg / Repro: Preuß
Sofia Schweizer
Hans-Joachim (Hajo) Boldt
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