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Das Kalandhaus

geschrieben von Irene Lange im Februar 2015

Vom Bruderschaftshaus bis zum Gefangenenlager: Das Kalandhaus blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück

Wie viele der Lüneburger historischen Bauten erlebte auch das Kalandhaus in der gleichnamigen Kalandstraße eine wechsel­volle Geschichte. Noch vor gut 500 Jahren schritten die Mitglieder der 1274 gegründeten Kalandbruder­schaft durch das prächtige Spitzbogenportal ihres Versammlungshauses, eine der bedeutendsten wohl­tätigen Zusammenschlüsse des 15. Jahrhunderts in Lüneburg. Ausschließlich hochrangigen Geistlichen, Erzbischöfen und Äbten wurde die Aufnahme gewährt, wie auch Herzögen und wohlhabenden Bürgern. Erbaut wurde das Haus 1491. Noch heute befinden sich drei goldene Skulpturen mit beten­dem und segnendem Gestus in den Fassadennischen über dem Eingang: links eine Christusfigur mit dem Kreuzesstab, in der Mitte die Jungfrau Maria auf der Mondsichel und rechts Gottvater als Weltenherrscher mit Krone und Reichsapfel.
Der Name Kaland ist aus dem Lateinischen „Kalandae“ abgeleitet und ist die Bezeichnung für den ers­ten Tag eines Monats, an dem sich auch die Bruderschaft unter Anderem zur gemeinsamen Andacht traf und folglich ihren Namen daraus ableitete: Bruderschaft der Kalander des heiligen Geistes und der Jungfrau Maria an der St. Johannis-Kirche. Sie verfügte über beträchtliches Kapital, unterhielt eine Armenstiftung und versorgte Bedürftige, doch stand die Sorge um die Erhaltung des Seelenheils der Mitglieder im Vordergrund. Für den dazu erforderlichen guten Draht zum Schöpfer unterhielt man einen Altar in der Johanniskirche, an dem auch die Seelenmessen für die Verstorbenen gelesen wurden. Zu hohen Festtagen zogen die Kalandbrüder und auch -schwestern einheitlich gewandet in feier­licher Prozession ins Kirchenschiff ein. Dieses Schauspiel verfehlte sicher seine Wirkung auf das „gemeine“ Volk nicht. Doch gehörte immer auch das gesellige Beisammensein zu diesen Zusammenkünften. Nach den kirchlichen Feierlichkeiten begab man sich zu einem Festmahl ins Kalandhaus, an dem Männer und Frauen streng getrennt teilnahmen. Mit fortgeschrittenem Genuss von kostspieligem Gestensaft aus Hamburg ging es nicht immer ganz gesittet zu. Gerüchten zufolge sollen im Jahre 1504 über 100 Personen drei ganze Tage lang gefeiert haben. Solche Bankette waren im Mittelalter häufig üblich, demzufolge wohl auch bei den Kaland-Brüdern und -schwestern.
Im Zuge der Reformation löste der Rat 1532 die Bruderschaft auf. Das Kalandhaus übernahm die Stadt, künftig diente es dem Rektor des Johanneums als Wohnhaus. Die erste große bauliche Veränderung erfolgte 1874, als die Diele zur Turnhalle für die Schule ausgebaut wurde. Ebenso richtete man das Obergeschoss für schulische Zwecke her.

Gerüchten zufolge sollen im Jahre 1504 über 100 Personen drei ganze Tage lang gefeiert haben.

Doch forderte der bauliche Zustand des Gebäudes 1896 eine Sanierung der Fassade, die schließlich in Anlehnung an historische Vorbilder erfolgte. In den Jahren 2006/2007 wurden erneut Restaurierungsarbeiten notwendig, bei denen auch die blattvergoldeten Holzfiguren einbezogen wurden. Bis auf ein Buntglasfenster ist heute im Inneren des Gebäudes nur wenig von der alten Pracht aus Zeiten der Kaland-­Bruderschaft vorhanden. Nachfolgende Generationen haben das Gebäude eher pragmatisch genutzt.
Ab 1933 beanspruchte der „Verband der sozialistischen Arbeiterjugend Deutschlandlands (SAJ)“ drei Räume im Obergeschoss des Kalandhauses; danach zog hier auch die Hitlerjugend ein. Zehn Jahre später, im Kriegsjahr 1943, wurde das Kalandhaus zur Außenstelle des Konzentrationslagers Neuengamme, zum „Außenlager Nummer 22“. Im Keller waren auf engstem Raum und unter menschenunwürdigen Bedingungen bis zu 155 Häftlinge eingepfercht, die man während des ab Mitte 1943 laufenden Luftschutz-Führerprogramm zwang, Deckungsgräben auszuheben und Luftschutzräume zu bauen. Immerhin war die Verpflegung wohl einigermaßen gesichert, denn damit war die städtische Speiseanstalt im Klosterhof beauftragt, die auch die Versorgung der großen Zahl der in Hamburg ausgebombten und nach Lüneburg geflüchteten Menschen vornahm.
Den Schülern des Gymnasiums nebenan wurden die Häftlinge als Verbrecher vorgeführt. Demzufolge waren Kontakte natürlich streng untersagt. Es sollte 50 Jahre dauern, bis dieser düstere Teil der Geschichte des Gebäudes publik wurde, nicht zuletzt durch eine Dokumentation des Lüneburger Historikers Dr. Werner Preuß Mitte der Neunzigerjahre. Heute erinnert eine Gedenktafel an der Front des backsteinernen Gebäudes mit seinem markanten Treppengiebel an dieses Kapitel. Das Kalandhaus gehört noch heute zur Hauptschule Stadtmitte.(ilg)


Foto: Enno Friedrich