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Reisen, um zu arbeiten – arbeiten, um zu reisen

geschrieben von André Pluskwa im Dezember 2011

EIN KURZER BLICK IN DIE WELT DER WANDERGESELLEN UND IHRER SCHÄCHTE

Wie es scheint, sind sie selten geworden, die Handwerksgesellen auf Tippelei. Wie Relikte einer längst vergangenen Zeit wirken sie in ihrer Kluft, mit der sie schnell alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen; dabei darf man diese Art zu reisen und zu lernen gern als eine der letzten Freiheiten verstehen, die unsere Gesellschaft noch zulässt. Wie sieht es aber genauer aus mit ihren Traditionen und Vereinigungen, den so genannten Schächten, was genau hat es auf sich mit ihrer selbst gewählten Zeit auf der Straße?

Der Düsseldorfer Tischler Michael, 22 Jahre, und Steinmetz David, 24 Jahre, aus Neu-Ulm stammend, sind zusammen seit rund anderthalb Jahren durch Deutschland unterwegs. Für eine Zeitlang residierten und arbeiteten sie in Lüneburg. Wo die beiden sein werden — jetzt, zu diesem Zeitpunkt, an dem Sie dies lesen — weiß man nicht. Kontaktaufnahme unmöglich, denn Handys sind nicht erlaubt. Michael erklärt: „Wir gehören dem ‚fremden Freiheitsschacht‘ an. Dieser wurde am 1. Mai. 1910 in der Schweiz, genauer: in Bern, gegründet. Er pfl egt den Brauch für Bauhandwerksgesellen, nach der Lehrzeit auf Wanderschaft zu gehen und das Reisen unter den Bauhandwerkern zu fördern und zu verbreiten. Jeder Maurer, Zimmerer, Dachdecker, Schreiner, Steinmetz, Betonbauer, Fliesenleger und Steinsetzer, der einen Gesellenbrief hat, sich für drei Jahre und einen Tag verpfl ichtet, seinen Heimatort bis auf 50 Kilometer zu meiden, keine Schulden hat, nicht vorbestraft, sowie unverheiratet und kinderlos ist, aber Mitglied in einer Gewerkschaft, kann im fremden Freiheitsschacht reisen und somit aufgenommen werden.“

Für die ersten Monate auf der Straße wird dem Anfänger ein bereits erfahrener Tippel-Bruder, der bereits ein Jahr unterwegs ist, an die Seite gestellt. Dieser weiht den Neuling in alles Wesentliche ein, um ihn dann, wenn er soweit ist, allein weiterziehen zu lassen. Sich Arbeit und Obdach suchen, davon ist der Alltag der jungen Männer geprägt. „Man lernt unglaublich viel. Überall wird etwas anders gearbeitet, jeder kennt neue Tricks und Kniffe, Fertigkeiten, die man niemals über die klassischen Lehrjahre in einer einzigen Ausbildungsstätte erwerben könnte. So wird das Wissen in unserer Branche lebendig gehalten, es besteht ein permanenter Austausch. Außerdem ist es natürlich interessant, in anderen Städten auf Handwerker zu treffen, die vor vielleicht 30 Jahren unterwegs waren und darüber berichten können“, erzählt David. „Natürlich prägt diese Zeit dich auch menschlich. Die Erfahrungen, die man während der drei Jahre sammelt, machen einen erwachsener. Man sieht die Welt mit anderen Augen“, ergänzt Michael. Von daher verwundert es nicht, dass viele der Wandergesellen einen eher linken jugendkulturellen Background haben, zumal alternative Jugendzentren oder Wagenburgen den jungen Männern gern Obdach gewähren. Die erste Anlaufstelle in Lüneburg war somit auch das „Jekyll & Hyde“, das in der Wanderburschen-Szene einen guten Ruf genießt. Hier trifft man auf eine alternative, weltoffene Szenerie, in der nicht wenige Handwerker ihr Feierabendbier genießen. Entsprechend schnell können Kontakte geknüpft werden. Vor allem aber kann man sich sicher sein, nicht an die Falschen zu geraten.

„Man darf die Schächte nicht mit studentischen Vereinigungen gleichsetzen. Wir stehen für Weltoffenheit und Toleranz. Was viele nicht wissen: Während des Zweiten Weltkrieges sind in den Konzentrationslagern tatsächlich auch viele unserer Vorgänger umgekommen. Mit Vorurteilen haben wir aber nicht zu kämpfen – eher im Gegenteil: Die meis ten Menschen sind sehr offen und interessiert. Wenn wir per Anhalter reisen, werden wir meist schnell mitgenommen. Von den Fahrern hören wir oft: ‚Hättet ihr eure Kluft nicht angehabt, hätte ich euch nicht mitgenommen!‘ Für unsere Reisewege sollen wir übrigens nicht zahlen müssen!“ Wie sieht es denn überhaupt mit Geld aus? „Wir arbeiten nicht schwarz, auch nicht nur für Kost und Logis. Es gibt gewerkschaftlich ausgehandelte Tarife, an die auch unsere jeweiligen Auftraggeber gebunden sind. Wer aber in der Bauhandwerkerbranche arbeitet, weiß dies auch.“ Für die Herbstzeit waren die beiden bei einem Lüneburger Handwerker untergekommen, eine gute Zeit hätte man hier gehabt, aber nun hat beide die Reiselust wieder gepackt. Wohin es gehen soll? Richtung Süden, der Rest werde sich ergeben. Alles Gute! (ap)

www.fremderfreiheitsschacht.de

Fotos: Enno Friedrich