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Das „Dragoner-Denkmal“

geschrieben im März 2013

… IM CLAMART-PARK (TEIL I) – VON APL. PROF. DR. WERNER H. PREUSS

Es gibt keine Geschichtsschreibung ohne Geschichtsinterpretation. In dem Maße wie diese sich mit dem Zeitgeist wandelt, verändert sich auch die Geschichte selbst. Zwar kann man Geschehenes nicht ungeschehen machen, man kann es jedoch in einem neuen Zusammenhang betrachten und ihm damit eine bessere Bedeutung, eine Wendung zum Guten geben. Nach und nach tritt auch zu Tage, was Denkmale darstellen und bedeuten. Mehrfache „Häutungen“ hat zum Beispiel das Dragoner-Denkmal im Clamart- Park vollzogen, das uns heute als Erinnerung an die unselige kriegerische Vergangenheit der Stadt, des Landes, ja Europas gilt und als Mahnung zum Frieden. Das war nicht immer so.

DER 1. WELTKRIEG BEGINNT AM 1. AUGUST 1914. AM NÄCHSTEN TAG FAHREN SCHON DIE ERSTEN DRAGONER AUS LÜNEBURG NACH AACHEN AN DIE BELGISCHE GRENZE.

wurde nach dem „Deutschen Bruderkrieg“ 1866 gebildet, als Preußen sich das Königreich Hannover einverleibt hatte. Ende Juli 1871 wurde das Regiment nach Lüneburg und Uelzen, 1903 ganz nach Lüneburg verlegt. An seinem Geburtstag, dem 27. Januar 1899, erteilte ihm Kaiser Wilhelm II. die Erlaubnis, seine hannoversche Tradition aufzunehmen und wieder auf die Lüneburger Husaren zurückzuführen, die Albrecht von Estorff hier 1813 angeworben hatte. Die etwa 650 Dragoner waren mit ihren Pferden in der 1828 gegründeten, später mehrfach erweiterten Lüner Kaserne (Lüne-Park), in der Schlosskaserne am Markt und an der Bardowicker Straße sowie in Bürgerquartieren untergebracht. Für das Wirtschaftsleben der Stadt hatte die Garnison eine erhebliche Bedeutung. Die Dragoner trugen kornblumenblaue Uniformen mit zitronengelben Kragen, Schulterklappen und Manschetten an den Ärmeln, dazu entsprechend blaue Mützen mit gelbem Mützenband. Zur Ausmarschuniform gehörte die Pickelhaube mit einer Schuppenkette aus Messing. Noch 1888 wurde statt des Säbels die Lanze zur Hauptwaffe der Kavallerie, zuerst eine Holzlanze, dann 1889 eine Stahllanze. Mit Beginn des 1. Weltkriegs erhielten die Soldaten graue Uniformen statt der leuchtend bunten, einen grauen Überzug über die blinkende Pickelhaube und am Kinn einen „Sturmriemen“ anstelle der schimmernden Schuppenkette. Der Dragoner im Clamartpark trägt jedoch noch die Friedensuniform. Auch die Lanze, die beim Angriff unter den Arm geklemmt („eingelegt“) wurde, um die Wucht des Pferdes auf den Stoß zu übertragen, hält er locker in der Hand.

Der 1. Weltkrieg beginnt am 1. August 1914. Am nächsten Tag fahren schon die ersten Dragoner aus Lüneburg nach Aachen an die belgische Grenze, die Mehrzahl folgt am 7. August. Die Bienenbütteler „Dichterin“ Anna Gade schilderte damals in einer Zeitungsreportage, was sie am Abend vor dem Abmarsch durch die geöffneten Fenster des Kasinos zu erblicken glaubte: „Im fl ackernden Kerzenschein der silbernen Armleuchter sieht man das helle Blau der Uniformen, das leuchtende Gelb der Aufschläge. Nur einige der Herrn sind schon in grauer Felduniform. [...]

DER HIMMEL EIN KASERNENHOF MIT DEM LIEBEN GOTT ALS KOMMANDEUR? DER KITSCHDIESER REPORTAGE ENTSPRACH DER DAMALIGEN KRIEGSPROPAGANDA.

Tannenschlanke junge Reiterfi guren bewegen sich vor den Fenstern im Schein der zuckenden Kerzen. Kraftvolle Germanengestalten erheben sich, gehen hin und her. Und lachen und scherzen, besonders die jüngeren der schneidigen Reitersmänner, denen Weib und Kind noch nicht den Abschied erschwert. Etwas Faszinierendes und etwas Ergreifendes liegt in dem sorglosen Lachen dieser kampfesfreudigen, jungen Offi ziere. Sie lachten nicht nur dem Leben, auch selbst dem Tode noch ins Gesicht. [...] Wer ahnt, was sie da drinnen denken mögen: das Leben ist zwar schön, aber schöner ist für König und Vaterland zu kämpfen. Im Nachthemd sterben und an Altersschwäche ist nichts für einen Reitersmann. Viel tausendmal lieber im staubigen, blutigen Waffenrock und mit den Sporen an den Füßen sich droben zur Stelle gemeldet!“ Der Himmel ein Kasernenhof mit dem lieben Gott als Kommandeur?! Der Kitsch dieser Reportage entsprach der damaligen Kriegspropaganda. Die Ernüchterung folgt auf dem Fuße: Die deutsche Armee verlangt am 2. August ultimativ vom neutralen Belgien das Durchmarsch-Recht nach Frankreich, das König Albert I. jedoch verweigert. Stattdessen ruft er seine Landsleute zu entschlossenem Widerstand auf. Daraufhin marschieren deutsche Truppen in der Nacht zum 4. August 1914 in Belgien ein. Die Lüneburger Dragoner sind von Beginn an beteiligt, obwohl König Albert I., wie schon sein Vater Philipp, seit dem 27. August 1907 „Chef des Regiments“ (ein Ehrentitel) ist. Am 5. November 1913 hatte er noch „sein“ Regiment in der Lüner Kaserne besucht und dabei die blau-gelbe Uniform der Dragoner getragen. Dort traf er auch mit dem Kommandierenden General des X. Armeekorps in Hannover, Otto von Emmich, zusammen, der nur zehn Monate später den Einmarsch nach Belgien und den Angriff auf Lüttich befehligte.

Am 9. August 1914 schildert das „Kriegstagebuch“ der 3. Eskadron (Schwadron, berittene Hundertschaft) den Vormarsch durch den Ort Berneau bei Dalhem südlich von Maastricht: „Ein paar widerlich aufgedunsene Pferdekadaver, die ersten zerstörten Gehöfte. Ein paar Granattrichter, rauchende Ruinen, davor zerschlagenes Hausgerät, ein Tisch mit drei Beinen, ein Waschbecken mit schmutzigem Wasser darauf, Tuchfetzen, Uniformstücke, ein belgisches, zerbrochenes Gewehr! Berneau 5.00 Uhr nachmittags! Ein schönes, reiches Dorf – gewesen; jetzt rauchende Ruinen. Eine Luft zum Ersticken, aus Brandgeruch von schwelenden halbverkohlten Balken, von denen Rauchfäden in die heiße, zitternde Nachmittagsstille steigen. Klirrend zieht Schwadron nach Schwadron durch die leeren, hallenden Gassen, die heißen schwarzen Mauern. In den letzten Gärten am Ausgang weht ein seltsam süßlicher Gestank. Die Pferde schnauben, scheuen. – Ein schwarzes Bündel im Straßengraben. Hier eins, da eins, weiter drinnen im Garten noch einige. Die ersten Leichen, Zivilisten. Dazwischen ein neues, weißes Holzkreuz mit einem Kranz darum: „Kürassierpatrouille [ein Reiter] von Einwohnern ermordet.“ [...] Alles trabt hintereinander, starrt wie gebannt in die lodernden, lautlosen Brände. Jeder fühlt, dass er jetzt in etwas Neues, Fesselndes mit hineingerissen wird, etwas, das sich von der friedlichen Garnison im Abschiedstaumel und in der Begeisterung ganz anders ausgenommen hat.“ Dieses „Neue, Fesselnde“ ist der reale Albtraum des Krieges. Was war geschehen? In der Nacht nach dem Einmarsch am 4. August waren deutsche Soldaten in Berneau in Panik geraten und hatten sich irrtümlich gegenseitig beschossen. In ihrem ‚friendly fi re‘ starben elf Kameraden, doch „die Schuld an dem Zwischenfall wurde belgischen Zivilisten gegeben, von denen am nächsten Tag zehn erschossen wurden, darunter eine Familie mit fünf Kindern, die sich im Keller versteckt hatte“, erklären die Historiker John Horne und Alan Kramer. Noch heute heißt die Straße von Berneau nach Visé „rue des fusillés“ (Straße der Erschossenen).

Der Kriegsfreiwillige Heinrich Wiedenbrüg der 4. Eskadron, aufgewachsen als Sohn eines südamerikanischen Konsuls im eleganten Herrenhaus des Gutes Schnede (Vierhöfen), schildert einen Melderitt im Juni 1915 bei Moulin-sous-Touvent nordwestlich von Reims in Frankreich: „Ein anderes Mal hatte ich in Nampcel auf der Brig. [„Brigade“, Gefechtsstand, Kommandozentrale] meine Meldung abgegeben und musste noch eine halbe Stunde warten, um eine andere Meldung zurückzunehmen. Als ich mein Pferd in den Stall ziehen wollte, gab es einen furchtbaren Knall, ich fl og in die Höhe, sah, wie mein Pferd hinten heruntersackte und dann war vollständig Nacht. Mein einziger Gedanke war, dass das Haus einstürzte und ich möglichst weit davon wegkam. In Wirklichkeit war aber das 50 Meter entfernt liegende Munitionsdepot, wo sich auch schwere Minen und Handgranaten befanden, explodiert. Ich fühlte nur noch, wie ich mich unter den Beinen meines Pferdes befand. Sehen konnte man nicht die Hand vor Augen. Nachdem es ungefähr drei Minuten lang Nacht gewesen war, wurde es hell, und ich fand mein Pferd mit eingedrückter Schädeldecke 50 Meter von dem Platz entfernt, an dem ich gestanden hatte. Jetzt sah man eine ungeheure Rauchwolke kerzengrade in die Höhe gehen. 36 Pioniere waren vollkommen zerstückelt worden, und die Menschenteile lagen überall herum. Oben bei der Brig. waren sämtliche Fenster zerbrochen. Da mein Pferd nur noch hin und her wankte, so ließ ich mir ein anderes geben, mit dem ich nach Moulin zurückritt.“ Zum Rittmeister (Hauptmann) befördert ist Heinrich Wiedenbrüg am 18. Januar 1945 im 2. Weltkrieg „gefallen“. So steht es auf einer Tafel des Dragoner-Denkmals.

Wenn die Heimat der toten Soldaten gedenkt, so sind sie ihr als friedliche Verwandte und Freunde, beinahe Zivilisten im Gedächtnis. Sie erinnert sich an bunte Paraden, Reitturniere und Militärkonzerte. Doch das Leben und Sterben im Krieg sah anders aus: Die Soldaten wurden nicht nur ins Feuer geschickt, sondern hatten auf Befehl auch anzugreifen – und zu töten! Rittmeister Witte, Führer der 2. Eskadron, berichtet über ein Scharmützel am 19. August 1914 bei Sint-Joris-Weert südwestlich von Leuven (Löwen) in Belgien: „Der neben mir reitende Trompeter Scheller war gleich beim Beginn der Attacke zusammengebrochen; nachher stellte sich aber heraus, dass nur sein Pferd verwundet war. Er selbst konnte sich vor der Gefangenschaft retten, da er sich nur eine Hüfte verrenkt hatte. Der Dragoner Macke erhielt einen leichten Streifschuss am linken Arm. Im Übrigen hatte die Esk. keinerlei Verluste zu beklagen – einigen Reitern waren allerdings die Pferde unter dem Leibe weggeschossen, aber sie selbst hatten sich alle unverwundet vor der Gefangenschaft retten können, teilweise freilich bei Preisgabe von Stiefeln, Helmen oder Lanzen. Dafür haben aber unsere Reiter im Ganzen etwa 10 belgische Infanteristen niedergestochen! Wenn wir dadurch dem Feinde auch keinen erheblichen Schaden zufügen konnten, so darf die Esk. auf den 19. August 1914 und diese kleine Attacke-Episode doch stolz sein als auf ein schneidiges deutsches Reiterstück, welches den Belgiern mit blutiger Schrift bewiesen hat, was deutsche Reiter mit der Lanze als der Königin der Waffe zu leisten vermögen, in dem Voll gefühl, ein ruhmvolles Erinnerungsblatt in die Regimentsgeschichte unserer tapferen gelben Reiter [Gelb war das Uniformzeichen der Kavallerie] von der braunen Heide eingefügt zu haben. Besonders ausgezeichnet haben sich und verdienen für alle Zeiten namentlich aufgeführt zu werden: [...] Alle acht wichen während der ganzen Gefechtshandlung nicht von meiner Seite, bewiesen tadellose Umsicht und nie erlahmende Tapferkeit und wetteiferten darin, möglichst viele in den Hecken und Gräben versteckte Belgier vom Pferde herunter mit der Lanze aufzuspießen.“ Die meisten von ihnen wurden für diese Tat, wie ihr Chef Rittmeister Witte, mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet oder befördert.

Die Pforten zur Hölle des 1. Weltkriegs waren geöffnet, in dem noch ganz andere Waffen eingesetzt wurden. Doch die Kriegsmüden, Traumatisierten, an der Unmenschlichkeit und Tierquälerei Verzweifelten kommen in der Regimentsgeschichte nicht zu Wort.

Fotos: SAMMLUNG HAJO BOLDT,SOFIA SCHWEIZER, ZEICHNUNG DES LEUTNANTS W. SCHIMMELPFENG. REGIMENTSGESCHICHTE II, NEBEN S. 17. REPRO: WERNER H. PREUSS

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