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Prächtige Schriften

geschrieben von André Pluskwa im Juni 2012

Von den Büchern und der Zeit: Die Prachthandschriften der Ratsbücherei

Im Hinblick auf die Hansetage, so war der Auftrag, solle ich mich in die Ratsbücherei begeben, dort vier historische Kostbarkeiten — die dort gehüteten Prachthandschriften — sichten und darüber berichten. Um ehrlich zu sein, so ganz gelungen ist mir dies nicht, habe ich es doch nicht verstanden, den subjektiven, eigenen Blick auf den Gegenstand dieser textlichen Betrachtung auf professionelle Distanz zurückzudrängen und mich auf die Dienstleistung entpersonifizierter Informationsvermittlung zu reduzieren. Stattdessen sirren die Gedanken nur so heraus, ein Zeichen wohl dafür, dass (mir) die ­ganze Sache zu epochal ist, als dass man sie einfach zum PR-Job degradieren könne. So sei es drum.

Die geschichtsträchtige Ratsbücherei der Hansestadt Lüneburg ist – sic! – immer einen Besuch wert, nicht nur für mich, der ich – selbst Hanseat von der Schwester am nördlichen Ende der Salzstrasse, Lübeck – als Kind und Jugendlicher unzählige Stunden in der dortigen Bücherei, die ebenfalls in historischen Mauern ihr Zuhause hat, verbrachte. Entsprechend erfreut war ich seinerzeit, als ich, frisch an der Salzenstraße Südzipfel angekommen und nur um die auf Funktionalität angelegte Unibibliothek wissend, die Lüneburger Ratsbücherei für mich entdeckte; statt einer konturlosen grauen Bücherverwahranstalt fand ich ein einen Ort mit Geschichte, an dem Leben herrscht und der Geist lange vergangener Zeiten einen zu berühren vermag, wenn man in den Mauern verweilt.

Das vorab für alle Lesemuffel, Netzgemeindler und Technik-Geeks. Die Ratsbücherei ist alles andere als ein Anachronismus – ganz im Gegenteil: Nicht nur Leseratten und Bücherwürmer, auch Filmfans und neuerdings Freunde der Wii-Spielekonsole werden in der Ratsbücherei fündig. Außerdem ist da natürlich noch die Artothek, die es dem Kunstliebhaber erlaubt, Bilder auszuleihen und damit die eigenen vier Wände auf Zeit zu veredeln. Auch kann man nun als Kunde der Ratsbücherei auf das Munzinger-Archiv zurückgreifen – eine, in Zeiten von Wikipedia & Co von ganz besonderer Bedeutung, ­zitierfähige Online-Informations-Quelle, die von Presse und Politik, Forschenden und sonstigen Schreibarbeitern immer dann genutzt wird, wenn es um die Verbindlichkeit des Wortes geht.

Mit dem Internet ist unser Verständnis von Wahrheit und Gültigkeit tiefgreifenden Veränderungen ausgesetzt. Schwarmintelligenz und Eigenrecherche haben vielerorts den Spezialisten, das Vertrauen in den Profi und gelehrten Wissensverwalter abgelöst. Heutzutage ist nicht mehr nur Wissen Macht, sondern das Generieren von öffentlichkeitswirksamer Information mindestens genau so bedeutsam. Die Geschwindigkeit des Verbreitens und Verarbeitens von Information hat rapide zugenommen, die Dauer ihrer Gültigkeit, ihre Halbwertszeit scheint sich dagegen umgekehrt proportional zu entwickeln: Was heute noch stimmt, kann morgen bereits überholt sein; kein gedrucktes Lexikon macht da noch Sinn, das Papier scheint zu geduldig für unsere Zeit geworden zu sein. Allerdings sollte man diesen Entwicklungen nicht mit Kulturpessimismus begegnen, sondern im Geist der Zeit, so wie es auch seitens der Ratsbücherei gehandhabt wird, mitschwingen. Das was war wird dann Relikt und Artefakt, Brücke zurück in andere Epochen, in denen andere Gültigkeiten herrschten als heute. Und so vergehen diese Epochen, und mit ihnen kommen und gehen oder bleiben Autoren und Werke. Manche wirken über Jahrhunderte hinaus, andere geraten in Vergessenheit oder werden vielleicht wiederentdeckt, ein sich organisch bildender Kanon des Wissens und der Wahrheit entsteht in jeder einzelnen Bibliothek mit Geschichte auf dieser Welt; Orte von — man ist geneigt zu sagen: mys­tischer Kraft, an denen Namen wie vielleicht Ovid, Thomas Morus oder Goethe genau so aufblitzen wie Astrid Lindgren oder Enid Blyton, die Bibel oder Homo Faber, Grimms Märchen oder Stephen King. Je höher man in die Vogelperspektive steigt, umso mehr schwindet die Bedeutung des Einzelnen, umso mehr eröffnet sich einem der unglaubliche Umfang menschlicher Schaffenskraft. Eine unzählbare Menge verfasster Worte, die vielleicht ohne Mühen in digitalisierter Form für die Ewigkeit in der Virtualität ihren Platz finden, niemals aber mehr für den menschlichen Geist in ihrer Gesamtheit zu erfassen sind — man wird von Ehrfurcht erfasst, wenn einen plötzlich eine Ahnung vom Strom der Jahrhunderte umfließt.

Davon kann man sich in den so genannten Magazinen der Ratsbücherei einen Eindruck verschaffen: Ehrfürchtig betritt man die für die Öffentlichkeit im Büchereialltag nicht zugänglichen Räumlichkeiten, in denen unter besonderen Bedingungen die nicht nur für Historiker wertvollen Schätze der Bücherei aufbewahrt werden; hier finden sich nicht nur Artefakte, die ab der Erfindung des Buchdruckes entstanden, sondern auch kunstvolle Handschriften auf Pergament, mit Blattgold, Ornamenten und Zeichnungen veredelt, jede einzelne Seite ein kleines Kunstwerk, jahrhundertealt, seinerzeit von Stadtschreibern oder Mönchen in Gemeinschaftsarbeit erstellt – Dokumente, deren Inhalt den Aufwand seiner Verschriftlichung zwangsläufig wert sein musste. Vier dieser Schätze darf ich heute bewundern. Da sind: Missale (pars hiemalis), sogenanntes Wevelkoven-Missale Ms. Theol. 2° 1a; Pergament – 371 Bl. – Lüneburg – um 1400; Schrifttyp: Textualis formata Schwabenspiegel Ms. Jurid. 3; Pergament – 159 Bl. 38 x 29,5 cm – Lüneburg – Anfang 15. Jahrhundert; Schrifttyp: Textualis formata; Sprache: Niederdeutsch Sachsenspiegel (Der jüngere Sachsenspiegel) Signatur: Ms. Jurid. 1; Pergament – 283 Bl. – 48 x 30 cm – Lüneburg – 1442; Schrifttyp: Text: Textualis formata; Glosse: Bastarda formata; Sprache: Niederdeutsch Sachsenspiegel (Der ältere Sachsenspiegel) Signatur: Ms. Jurid. 2; Pergament – 302 Bl. – 42,5 x 30,5 cm – Lüneburg – Anfang 15. Jahr­hundert; Schrifttyp: Text: Textualis formata; Glosse: Bastarda; Sprache: Niederdeutsch

Kunstvolle Schriften auf Pergament - jede Seite ein kleines Kunstwerk

Wenigstens zu Letzterem einige Details: „Als Sachsenspiegel wird das erstmals von Eike von Repgow zwischen 1220 und 1235 niedergeschriebene sächsisch-germanische Recht bezeichnet. Auf Betreiben seines Landesherrn übersetzte Eike von Repgow das ursprünglich in Latein verfasste Buch ins Niederdeutsche, wodurch es sich sehr schnell im deutschen Sprachraum verbreitete. Die Ratsbücherei Lüneburg besitzt zwei Exemplare des Sachsenspiegels. Das hier vorliegende ältere Exemplar mit der Signatur Ms. Jurid. 2 wurde um 1405 von der Stadt Lüneburg in Auftrag gegeben. Die Handschrift ist sehr sorgfältig gearbeitet und jede Seite aufwändig mit einem pflanzenartigen Muster (Fleuronée) verziert. Das Fleuronée läuft mit Blatt- und Blütenmotiven in Rand- und Mittelleisten aus und wird gelegentlich mit kleinen ­Vögeln abgeschlossen.“ (Ratsbücherei Lüneburg) Gisela Scheel-Bockelmann und Claudia Bußjäger, die unter Dr. Thomas Lux die Geschicke der ­Bücherei in all ihren Facetten leiten, tragen Handschuhe und zeigen sich sehr behutsam im Umgang mit den Schriften, die in Holzkästen aufbewahrt werden. Es ist nicht verkehrt, der andächtigen Stille gewahr zu werden, die sich in einem aus­breitet, wenn man durch die Seiten blättert. Man kann sich, ohne dass es einem als Laien überhaupt recht möglich ist, Schriftbild geschweige denn Inhalt angemessen zu entziffern, trotzdem in diesen Büchern, die sich auf ihre ganz ureigen Weise als Zeitmaschinen entpuppen, verlieren. Mich haben sie erst einmal sprachlos gemacht. Dann aber zeigten sie mir all ihre inspirierende Kraft. Wie viel Wert dem geschriebenen Wort einmal zugemessen wurde, wie viel Hingabe dem Akt des Schreibens und Buchmachens! Man kann nur jedem raten, wenigstens einmal im Leben diese Zeugnisse der Vergangenheit auf sich wirken zu lassen, alles andere wäre eine Unterlassung!(ap)

Ratsbücherei der Hansestadt Lüneburg Am Marienplatz 3 21335 Lüneburg Tel.: (04131) 309-619

Fotos: Enno Friedrich