Im Revier der Auerochsen
geschrieben von Claudia Lampert im Oktober 2012Der legendäre Auerochse ist eigentlich ausgestorben. Aber seine urwüchsigen Nachfahren bewähren sich als Garanten der Artenvielfalt in den Elbtal-Auen

Dunkle Augen, ein stämmiger Körper und wehrhafte Hörner – die Begegnung mit Auerochsen ist eine Zeitreise durch die Menschheitsgeschichte. Die Kraft und Wildheit der Auerochsen, auch Ur genannt, ist sprichwörtlich. Die echten Auerochsen sind zwar ausgestorben, aber es gibt Nachfahren, die durch Züchtung ihrem Ur- Typ ziemlich nahe kommen. Einer ihrer Halter ist Jürgen Niederhoff. Rund 130 dieser neuen Auerochsen – korrekt heißen sie „Heckrinder“ – betreut der 63-Jährige im Amt Neuhaus südöstlich von Hamburg. Über seine Arbeit als Landvermesser bei der Flurbereinigungsbehörde Lüneburg kam Niederhoff mit der Stork-Foundation in Kontakt. Die Stiftung kaufte ab 1994 große Flächen Land entlang der Sude, einem Nebenfluss der Elbe, die zum Biosphärenreservat dieser Region gehören. Ziel der Stiftung ist die Renaturierung von Feuchtwiesen als Lebensraum für Störche und andere Wiesenvögel. Seit einigen Jahren nun pflegt Niederhoffs Auerochsen- Herde rund 145 Hektar eines insgesamt 500 Hektar großen Storchenreviers und hält die Gräser kurz. Denn Störche meiden hohes Gras. „Störche suchen ihre Nahrung am liebsten in kurzen Feuchtwiesen“, sagt Niederhoff; „die sind aber schwer zu bewirtschaften und zu mähen. Zudem gibt es hier im Naturschutzgebiet eine Menge Auflagen für die Landwirtschaft. Die Heckrinder halten die Aueflächen offen und fressen das Gras und Gebüsch kurz.“ Die mächtigen Rinder leben das ganze Jahr über im Freien, berichtete die Monatszeitschrift „Liebes Land“ in einer großen Reportage über die neuen Auerochsen in der Sude-Niederung. Gemeinsam mit einigen urwüchsigen Konik-Pferden streift die Rinderherde auch in strengen Wintern über die Weide und zieht sich zum Schutz in die Auewälder zurück. Auch die Kälber kommen ohne Menschenhand zur Welt. Ein paar Tage lang hält sich die Mutterkuh mit dem Neugeborenen abseits, bevor sie sich der Herde anschließen. Die Aufgabe von Jürgen Niederhoff ist es, dem Kalb in den ersten Tagen Ohrmarken zu geben und damit dessen Herkunft zu dokumentieren – keine einfache Aufgabe, aber notwendig, um die Inzucht der mehr als 3.000 heute in Europa lebenden Auerochsen zu vermeiden. Der Auerochse gilt als der Stammvater aller Hausrinder. Dieser Wildtyp war über weite Teile Europas, Asiens und Nordafrikas verbreitet und kam bis Mittelschweden und England. Es gibt allerdings keine Funde auf dem nord- und südamerikanischen oder australischen Kontinent. Vor über 380 Jahren, 1627, starb der letzte Auerochse. Damit war aber die Zeit der Jagdtrophäen vorbei, in der Trinkgefäße aus seinen Hörnern die Schützen schmückten.
Steppen- und Kampfrinder

1921 wurde der Auerochse wiederbelebt. Die
Brüder Lutz und Heinz Heck, Zoodirektoren in
Berlin und München, starteten mit der Rückkreuzung.
Dazu dienten ihnen neben dem Podolischen
Steppenrind, dem Schottischen Hochlandrind
und dem Spanischen Kampfrind auch einige
Hausrinderrassen. Es gelang ihnen, das nach
ihnen benannte Heck-Rind zu züchten, das zwar
deutlich kleiner und weniger angriffslustig war als der
legendäre Auerochse, diesem aber stark ähnelte.
„Sie sind etwas kleiner als Elefanten, sehr stark und
behände und schonen weder Menschen noch Tiere,
die ihnen zu Gesicht kommen“, urteilte Julius
Cäsar
über die Auerochsen aus den Wäldern nördlich
der Alpen. Cäsar ließ die wilden germanischen
Rinder nach Rom bringen und setzte sie im Kolosseum
zur Ermunterung der Bürger bei Gladiatorenkämpfen
ein.
Jürgen Niederhoffs Herde ist dagegen lammfromm.
Skeptisch beobachten sie Besucher auf
ihrer Weide. Dabei bleiben sie dicht beieinander.
Warmer Atem steigt aus den Nüstern hoch zu den
spitzen Hörnern, das dunkle Fell glänzt feucht,
Schnee tropft ihnen von den hellen Stirnfransen.
Nur eine Kuh wagt sich an Niederhoff heran und
stupst ihn vorsichtig. Von Fremden lässt sich aber
auch sie nicht anfassen. „Heckrinder sind scheu,
schnell und schlau“, sagt er. „Sie wissen genau,
wer ihr Betreuer ist und wer fremd ist. Dann halten
sie Abstand.“
Attraktion für Zoologen
Das Comeback-Rind ist nicht nur für Touristen und
Züchter eine Attraktion, vor allem Biologen und
Zoologen haben hier richtig Spaß; denn mit den
Auerochsen kommt auch eine enorme Artenvielfalt
in die Feuchtwiesen zurück. „Letztes Jahr wurden
hier am GEO-Tag der Artenvielfalt mehr als tausend
Arten gezählt“, freut sich Niederhoff.
Kein Wunder, dass er gelegentlich über einen dieser
Forscher stolpert. „Es kommt vor, dass jemand in
einem Wassergraben kauert und sich wie ein
Schneekönig freut, weil er einen Fisch wie den
Schlammpeitzger entdeckt hat, der fast ausgestorben
ist“, erzählt er schmunzelnd. Ein kleines
Paradies ist das Gelände auch für seltene Insekten
und gefährdete Vogelarten wie Bekassine (Himmelsziege),
Neuntöter, Kiebitz und Braunkehlchen.
Niederhoff lernt immer wieder neue Arten kennen
und staunt über die Vielfalt um ihn herum. Dass
seine Rinder nicht ganz so angriffslustig sind, wie
Cäsar sie beschrieb, darüber ist er in diesen besinnlichen
Momenten ganz froh.
— Ein Artikel von Claudia Lampert aus
SECURVITAL 01/2011.
Foto: Frank Niederhoff

Projekt Arche Die Züchtung der Auerochsen ist Teil eines großen Naturschutzkonzeptes in Niedersachsen. Denn hier schließen sich Bauern wie Auerochsen- Halter Jürgen Niederhoff zusammen, um auch alte Nutztierrassen zu erhalten. Etwa 100 Geflügel-, Rinder-, Schweine und Schafrassen stehen in Deutschland auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Nutztierrassen. Darunter Buntes Bentheimer Schwein, Pommernente, Brillenschaf und Ramelsloher Huhn. Diese Tierrassen werden hier täglich genutzt – als Milch-, Woll-, Fleischoder Eierlieferanten. Initiator des Projektes ist Hartmut Heckenroth, Vorstand der Stork Foundation. „Wir müssen diese Rassen vor dem Aussterben bewahren, denn sie sind ein Teil unserer Kultur und eine wichtige genetische Reserve für die Züchtung von Nutztieren in der Zukunft.“ Weltweit besteht die Gefahr, dass mit dem Aussterben der alten Nutztierrassen auch Erbeigenschaften verloren gehen, die die Tiere robust, genügsam und anpassungsfähig machen – Eigenschaften, die viele Hochleistungstiere heute schon verloren haben. Heckenroth hofft, dass dieses Projekt bald das erste sein wird, das die Auszeichnung „Arche Region“ tragen darf, ein Prädikat, das die Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen vergibt.
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