Der Viskulenhof
geschrieben von PROF. DR. WERNER H. PREUSS im November 2011EHEMALIGER SITZ DES LÜNEBURGER PATRIZIERGESCHLECHTS VISCULE

Wenn man durch die Straßen der Lüneburger
Innenstadt flaniert, die von Backsteinbauten
mit stolzen Giebeln gesäumt
werden, fällt es schwer sich vorzustellen, wie es
hier im 13. und 14. Jahrhundert ausgesehen hat.
Es herrschte eine ländliche Atmosphäre. Zwischen
stärker bebauten Bereichen lagen Gärten, Wiesen
und Äcker. Die Häuser standen noch nicht in einer
Straßenfl ucht nebeneinander, sondern jedes selbständig
auf seiner „Wurt“ (seinem Grundstück),
eventuell seitlich an ein Nachbarhaus gelehnt. Die
meisten von ihnen waren aus Holz errichtet.
„Steinreich“ war, wer sich ein „Stenhus“ leisten
konnte, einen kleinen Turm aus Stein, den man
auch „Kemenate“ nannte, weil es einen Kamin in
ihm gab. In diesen Wohntürmen brachte man alles
unter, was eben wertvoll war und vor Feuer, Wasser,
Kälte und Raub geschützt werden sollte. Sie
dienten der Herrschaft als warmer Wohnraum, als
Speicher oder Hauskapelle. Heute gibt es in Lüneburg
nur noch wenige Überreste von „Kemenaten“,
die später überbaut und in die Bürgerhäuser integriert
wurden. Doch ein stolzer patrizischer Wohnturm
lässt sich doch noch nachweisen: Der Turm
der mächtigen Familie Viscule ist durch Karten
und Abbildungen so gut belegt, dass sich sein
Standort genau belegen lässt und Ausgrabungen
vermutlich den Keller des Gebäudes zutage fördern
würden. Für Stadtarchäologie und Denkmalpfl
ege wäre es ein lohnenswertes Unternehmen,
die Baugeschichte des Viskulenhofes zu erforschen,
zumal das Anwesen im Hafenviertel einen
sehr exponierten Platz einnimmt und gegenwärtig
renoviert wird.
Der Viskulenhof war Sitz des Lüneburger Patiziergeschlechts
„Viscule“, das sich um 1291 gegenüber
dem Kaufhaus (Stapelplatz und Speicher für
auswärtige Güter) am Hafen niedergelassen hatte.
Drei Fische tummeln sich munter auf dem Wappen
der Familie, deren Name sich von einer „Fischkuhle“
in der Nähe ihres Stammsitzes ableiten soll
— von einer Vertiefung in der Ilmenau unterhalb der
Mühlenwehre, in welcher sich in jedem Frühjahr
massenhaft die stromaufwärts ziehenden Lachse
sammelten und gefischt wurden.
Der Viskulenhof erstreckte sich früher über den
gesamten Bereich zwischen der Salzstraße am
Wasser, der Baumstraße und dem Straßenzug Im
Wendischen Dorfe. Er bildete „ein Labyrinth von
Höfen und Gängen mit engen Türen und alten Galerien
und Treppen, das uns ein Bild davon gibt,
wie im 16. Jahrhundert eines großen Handelsherren
Haus und Hof beschaffen waren“ So empfand
es der Dichter Hermann Löns 1897 bei einem
Besuch in Lüneburg.
In seinem viel gelesenen historischen Roman „Der
Sülfmeister“ setzte Julius Wolff 1883 dem Viskulenhof
ein literarisches Denkmal. Er schildert
darin, was er sah und selbst erlebte, vermischt mit
historischen Fakten und poetischen Phantasien
vom Leben im 15. Jahrhundert: „Der Viskulenhof
war ein umfangreicher, vielgliedriger Bau mit Vorder-, Seiten- und Hintergebäuden, mit lang gestreckten Speichern und
Salzräumen, mit Beamten- und Arbeiterwohnungen, Stallungen für Frachtgäule
und Reitpferde und mit mehreren Höfen. Dieses in sich abgeschlossene
Ganze machte den Eindruck des gediegensten Wohlstandes und glich
einer wahren Handelsfeste, der das damit verbundene hochgiebelige
Wohnhaus an der Ecke als Herrensitz würdig vorstand. In den Häusern
und auf den Höfen regte sich ein lautes, lebhaftes Treiben von vielen eifrig
beschäftigten Menschen. Stückgüter von den verschiedensten Formen und
dem mannigfaltigsten Inhalt wurden hinein und heraus gefahren, getragen,
gewälzt und gerollt, die Winden ächzten und knarrten, und an Seilen
schwebten Fässer und Ballen zu den Bodenräumen empor. Auf der Ilmenau
vor der einen Langseite der Warenhäuser lagen Schiffe, die befrachtet oder
deren Ladungen gelöscht wurden. Es war das bunt-bewegte Bild eines
ausgedehnten Großhandels, der die Erzeugnisse des Nordens mit denen des Südens austauschte. Hier begegneten sich die
Kostbarkeiten des Orients und der Levante, über
Venedig kommend, und die Reichtümer aus den
Küstenländern des deutschen und baltischen
Meeres, durch die Häfen der Hansestädte dem
Binnenlande zugeführt.“
Das Haupthaus diente als Wohnung, Kontor und
Lagerraum. Zu dem Ensemble gehörten Speicher,
ein Turm, Gesindehäuser und Ställe. In einer alten
Lüneburger Chronik wird sogar berichtet: „Die
Fischkuhlen (Visculen) hatten in ihrem großen
Hause am Wasser und an der Salzstrasse eine eigene
Kapelle mit einem Priester und in dem Thurn
(Turm) am Wasser Glocken, womit sie zu ihrer Messe
läuten ließen. Auf dem dabey liegenden Graßhofe
war ein Lusthaus und Lustgarten.“ Der Turm
– Kemenate, Speicher oder die erwähnte Kapelle
– ist auf der Stadtansicht von Braun / Hogenberg
aus dem Jahre 1580 deutlich zu erkennen. Er stand
für sich und war noch um 1800 mit dem Haupthaus
des Viskulenhofes über eine hölzerne Brücke
in der Höhe des 1. Stockwerks verbunden. Das
Haupthaus war damals vermutlich länger als heute
und reichte nach Norden bis an die Baumstraße.
Der Treppengiebel, der auf dem Kupferstich
von Braun / Hogenberg noch zu sehen ist,
fehlt heute. Stattdessen fi ndet man dort einen
Fachwerkgiebel, der völlig schmucklos ist und wie
eine Innenwand wirkt.
Einen Jahrhunderte überdauernden Ruhm erwarb
sich Bürgermeister Heinrich Viscule der Ältere. An
der Ecke Untere Ohlingerstraße / Auf dem Meere
wurde er in der St. Ursula-Nacht vom 20. auf den
21. Oktober 1371 erschlagen, als er die Stadt mit anderen Bürgern gegen die eingedrungenen Mannen
des Herzogs Magnus verteidigte. Ein Gedenkstein
erinnert an seinen Tod. Die obere Hälfte befindet
sich heute in St. Johannis, die untere in
St. Nicolai. Pracht und Reichtum der „Visculen“
gingen 1485 im Konkurs ihres Handelshofes zugrunde.
Seit 1552 ist das Patriziergeschlecht in
Lüne burg ausgestorben.
Nach dem Konkurs des Viskulenhofes wurde das
Haupthaus zum größten Salzspeicher Lüneburgs
umgebaut. Direkt am Hafen lagerten nun gewaltige
Mengen des „weißen Goldes“ und warteten dort
mit anderen Waren auf den Weitertransport in die
Hansestädte am baltischen Meer. Unter ihrer Last
drohten die Böden wiederholt zu brechen.
Obwohl der Viskulen-Turm seine Funktion im Laufe
der Zeit einbüßte, ließ man ihn noch bis 1847
stehen. Auf einer Zeichnung von A. Leman aus
dem Jahre 1829 ist er in seiner letzten Gestalt zu
sehen: um eine Etage aufgestockt und mit gedrehtem
First. Er wird dabei vom Impost-Gebäude
(Zollamt) mit der auffälligen Tordurchfahrt leicht
verdeckt, das er zuletzt vor Hochwasser mit Eisgang
schützen sollte.
Am 29. Oktober 1932 brannte das Hauptgebäude
bis auf die Außenmauern nieder. Zwar baute man
es wieder auf, doch ließ man die Gesindehäuser
verfallen, bis sie 1954/55 abgerissen wurden. Ein
verheerendes Feuer vernichtete am 27. Dezember
1959 auch den großen Fachwerkspeicher am
Wasser. Nur Reste lassen heute also noch ein wenig
von der Hafenatmosphäre und der Größe des
mächtigen Handelshauses erahnen.
Aus: Werner H. Preuß: Das Lüneburger
Wasserviertel. 2. Auflage Husum Verlag 2010.
Und: Werner H. Preuß: Steinhäuser. Burgmannenhöfe
und patrizische Wohntürme in
Lüneburg. 2006. Erhältlich beim ALA.
FOTOS: MUSEUM LÜNEBURG; STADTARCHIV (REPRO: PREUSS); FRIEDRICH SCHALTER (SAMMLUNG BOLDT); RATSBÜCHEREI (REPRO: PREUSS) RAPHAEL PETERS (SAMMLUNG BOLDT)
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