Die Ausgeglichenheit des Oboisten
geschrieben von André Pluskwa im Juni 2011ZU BESUCH BEI TSEPO ANDREAS BOLLWINKEL
Früh im Mai in Lüneburg: Der Sommer hat seine Vorboten geschickt, als wolle er uns eine Ahnung davon geben, wie schön er sein wird in diesem Jahr. Als ich den Garten des Hauses, in dem Tsepo Andreas Bollwinkel mit seiner Familie lebt, betrete, werde ich freudig vom Familienhund Mokoto und Sohn Ubbo begrüßt. Wenig später sitzen wir unter grünen Bäumen und vergessen die Zeit. Der Alltag, er scheint, trotz aller Widrigkeiten, leicht und unbeschwert, wenn der Erste Solo- Oboist des Theaters Lüneburg von seiner Arbeit erzählt, von seinem Leben, von den Dingen, die ihn beschäftigen. „Ich lebe nicht nur für die Musik. Natürlich ist das ein toller Beruf, aber ich weiß, dass es mehr gibt im Leben. Ich interessiere mich für Astronomie und Theologie, und mein Lieblingskleidungstück ist nicht der Frack, sondern die Gartenhose. Der Gemüseanbau ist meine eigentliche Leidenschaft, eine wundervolle, erdige Beschäftigung, genau der richtige Ausgleich für meine Arbeit, die ganz andere Sinne anspricht, gleichzeitig aber auch, und das wissen die wenigsten, ein Hochleistungssport ist. Was noch weniger bekannt ist: Zahlenmäßig gesehen gehen mehr Menschen ins Theater als zum Fußball. Trotzdem sieht es mit der öffentlichen Finanzierung für Kultur eher mau aus. Davon also sicher leben zu können, ist schon ein großes Geschenk.“

So spricht ein Mann, der weiß, welch Glück er hat,
mit Musik die Familie ernähren zu können, in Festanstellung
(seit 1989!), ohne Angst vor kargen
Zeiten, ohne Tournee-Stress, ohne die Notwendigkeit,
sich verbiegen zu müssen. Dieses Bewusstsein
geht – zum Glück – zusammen mit einer angenehmen
Unaufgeregtheit, keine künstlerische
Arroganz, wie sie so oft aus dem Tunnelblick in die
privilegierten Elfenbeinturm-Welten, in denen man
sich als Künstler zwangsläufig bewegt, resultiert.
„Ich habe berufl ich erreicht, was ich wollte, habe
nach Studium und Lehrjahren auf Tournee und
nach diversen Projekten, die auch nicht immer das
beinhalteten, was mich künstlerisch befriedigt,
hier in Lüneburg meinen festen Platz gefunden.
Ich mag alles, von Verdi bis Wagner, die große
Oper, schön laute organisierte Lärmmusik, aber
auch die „verfrickelten“, kleinen, virtuosen Sachen
wie Haydn, Mozart oder Rossini. Ich muss mir oder
anderen nichts mehr beweisen. Natürlich muss
man immer noch üben, trainieren, an sich arbeiten;
doch kann ich sagen, dass ich im positivsten
Sinne satt bin. Nun ist Zeit für den Nachtisch. Mit
diesem Gestus arbeite ich. Eigentlich bin ich mehr
Theatermensch als Musiker. In einem kleinen Theater wie dem in Lüneburg kommt es viel mehr
auf das Timing aller Beteiligten an; das meint nicht
nur die Musiker. In einem großen Haus verschwinden
wir quasi im Orchestergraben, und es fällt kaum
auf, wenn einmal etwas nicht ganz richtig sitzt. Im
Lüneburger Theaterhaus gewinnen alle Facetten an
Bedeutung, dann geht es um eine höhere Harmonie,
nicht um Schönklang, also nicht nur um die Musik.
Auch die Schauspieler, das Licht, die Requisite gehören
dazu, wenn alles auf die Hundertstelsekunde
genau passt, wir alle gemeinsam auf den Punkt
kommen – das sind diese ganz besonderen Gänsehautmomente,
auf die man stolz sein kann, wenn
man später nach Hause geht.“
WIR REDEN ÜBER JENE, DIE WIE SELBSTVERSTÄNDLICH DAVON AUSGEHEN, DASS EIN MANN MIT SEINER HAUTFARBE WOHL JAZZ ODER BLUES SPIELEN MÜSSE.

Wir sitzen unterm blauen Himmel, lehnen uns zurück
und hören den Vögeln und der Zeit zu, wie beide
an uns vorüberziehen. Ich denke: „Das ist der
Frieden“, und frage nach der Herkunft seines Vornamens.
„Tsepo“, ein Name der aus Südafrika
stammt, dem Land, in das die Familie irgendwann
zurückkehren wird, denn dort ist Tsepo Andreas
Bollwinkel zuhause. „Meine Mutter ist weiß, mein
Vater schwarz. Sie kam als Krankenschwester aus
Deutschland, mein Vater war eine Art Dorfrichter.
Ich wurde in den Zeiten der Apartheid gezeugt, die
Zeugung allein schon ein kriminelles Delikt, meine
Mutter wusste nicht einmal, was ihr blühte, wäre
ich dort geboren worden. Sie ist quasi in letzter Sekunde
in den Flieger nach Deutschland gesetzt worden,
ich wurde fast auf dem Rollfeld geboren. Mein
Vater erhielt für das Vergehen, mit einer weißen
Frau ein Kind gezeugt zu haben, eine Strafe von
zwei Jahren Zwangsarbeit.“
Es folgt ein Exkurs ins Traurig-Beschämende, in
dem es um den alltäglichen, mehr oder weniger offenen
Rassismus in Deutschland geht, um Übergriffe
und Beleidigungen, um fremde Menschen,
denen es selbstverständlich scheint, einfach so
über das Kraushaar seiner Kinder zu fahren; um die
Gutmenschen, die wie selbstverständlich davon
ausgehen, dass ein Mann mit seiner Hautfarbe und
seinem Beruf wohl Jazz oder Blues spielen müsse;
um die Schwierigkeiten, die eintraten, wenn es um
die Wohnungssuche ging. „Waren die Hürden meines
Musikerdaseins am Telefon genommen, wurde mir
beim Vorstellungstermin die Nase vor der Tür zugeschlagen.
Aber diese Dinge machen einen selbstbewusster,
das gilt auch für meine Kinder. Das Problem
ist nicht die Hautfarbe – darf es gar nicht sein
– sondern ein Teil der Bevölkerung, der in seiner
Fähigkeit zur Entwicklung begrenzt ist.“ Diese
Worte, und das macht sie so besonders, spricht
Bollwinkel ohne Verbitterung, sondern in der Weisheit
derer, die darum wissen, dass man andere
Menschen nicht ändern kann, dass aber zukünftige
Generationen klüger sein können als ihre Ahnen.
Aus den Fehlern unserer Eltern lernen, nicht sie
wiederholen, darin liegt das Geheimnis.
Trotzdem werden er und seine Familie nach
Qwaqwa, der Region, in der seine Eltern sich kennen-
und lieben lernten, gehen, nicht aber ohne
Ziel: „Die nächste Seuche, die nach AIDS unser
Land befällt, ist Diabetes. Sie ist bereits angekommen
und trifft Bevölkerung wie Gesundheitssystem
völlig unerwartet und unvorbereitet. Früher waren
die Menschen dort ein Volk der Rinderhüter, wenn
man jemanden besuchte, gab es das obligatorische
Glas Milch. Mit fortschreitender Europäisierung
wurde die Milch durch Tee und Kekse ersetzt, nun
wird einem Coca Cola gereicht. Die Werbung hat all
diese Fast-Food-Greulichkeiten als Statussymbol
in den Köpfen der Menschen implementiert, die
Krankheitsfolgen sind umfassend, es gibt weder
Aufklärung noch Vorsorge noch Behandlung. Das
wollen wir ändern. Wir sind gerade in Vereinsgründung,
wollen ein Gesundheitszentrum initiieren,
außerdem alte Anbauweisen in das Bewusstsein
der Menschen dort zurückholen, Vorführgärten
anlegen, in denen aber auch neue Anbauweisen,
die für die Region förderlich sind, präsentiert werden.
Interessierte können sich gern bei mir melden.“
Er schweigt kurz. „Der eigentliche, der wichtigste
Aspekt meiner Geschichte aber ist, dass meine
Eltern geheiratet haben, 48 Jahre nach meiner
Zeugung.“ (ap)
FOTOS: ENNO FRIEDRICH
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