Magazin über das Leben in Lüneburg
Themen
Alle Themen und Artikel

Wer war Marga Jess ?

geschrieben von Constanze Sörensen im Februar 2012

Erste Goldschmiedemeisterin in Deutschland

Als zweite Tochter von Konrad Heinrich Jess, Königlich Preußischer Geheim-Oberjustizrat und späterer Landgerichtspräsident zu Lüneburg, und seiner Frau Ida Wilhelmine wurde Marga Jess am 10. März 1885 in Rendsburg geboren. 1904 siedelte die Familie nach Lüneburg über. Als Zwanzigjährige erhielt Marga Jess bei dem Bardowicker Maler und Grafiker Hugo Friedrich Hartmann Unterricht. Ihre ambitionierte Arbeitsweise wird von ihrer Mutter in mehreren Briefen an ihren Lehrer beschrieben: „Sie arbeitet mit großem Ernst und Ausdauer (…). Ihr ganzes Interesse konzentriert sich auf ihre Arbeit.“

Von 1906 bis 1909 besuchte Marga Jess die private Debschitz-Schule in München. Diese war ein Lehr- und Versuchsatelier für freie und angewandte Kunst. Hier lernte sie bei dem renommierten Münchner Goldschmied und Ziseleur Karl Johann Bauer die Techniken des Treibens und Ziselierens. Erste Erfolge erzielten ihre Schülerarbeiten auf Verkaufsausstellungen in München. In den Jahren 1909 bis 1911 absolvierte sie eine Lehre bei den Hof­juwelieren Gebrüder Friedländer in Berlin unter der Leitung von Max Weichmann. In dieser Werkstatt lernte sie diverse Juwelierfertigkeiten wie das Montieren und das Fassen von Steinen. Vor der Berliner Innung bestand sie ihre Gesellenprüfung mit einer sehr guten Note.

1911 zog es Marga Jess wieder zurück nach Lüne­burg, wo sie eine eigene Werkstatt an der Neuen Sülze 21a einrichtete. Dieses Gebäude existiert nicht mehr, anstelle dessen befindet sich dort das „Haus für Sicherheit“. Am 1. Juli 1912 legte sie ihre Meisterprüfung vor der Handwerkskammer in Harburg ab. Als Meisterstück entstand eine goldene Brosche mit drei Opalen. Seither wird in den zeitgenössischen Medien von der „ersten Goldschmiedemeisterin Deutschlands“ gesprochen.

1913 zeigte sie ihre Arbeiten in verschiedenen Ausstellungen in ganz Deutschland und nahm an einem Wettbewerb der Stadt Lüneburg für eine goldene Amtskette teil. Ihr Entwurf „Taumotiv“ wurde in zwei Fachzeitschriften publiziert, obgleich er nicht realisiert wurde. Vor Kriegsausbruch beteiligte sie sich an der Deutschen Werkbund-Ausstellung in Köln, wo eigens für weibliche Künstlerinnen das „Haus der Frauen“ errichtet wurde. Diese Ausgliederung belegt noch die strenge geschlechtliche Trennung im künstlerischen Bereich. In einer Rezension der Werkbund-Ausstellung wurde von einem „Kuriosum“ berichtet, „dass sich unter den Ausstellern auch eine geprüfte Goldschmiedemeisterin befindet“. In den folgenden Jahren besuchte sie Lehrgänge in Galvanotechnik sowie Chemie- und Elektrotechnik an der Kunstgewerbe- und Handwerksschule in Köln und belegte einen fast einjährigen Fortbildungskurs in Silberschmieden und Emaillieren an der „Königlichen Fachschule für Edelmetallindustrie Schwäbisch Gmünd“.

Nach dem ersten Weltkrieg begann Marga Jess ihre Werkstatt auszubauen und zu modernisieren. Dadurch avancierte ihr Betrieb zur größten Goldschmiedewerkstätte Lüneburgs. Sie stellte Gesellen ein, die ihr in ihrer Werkstatt zur Hand gingen, so auch Hans Alpers, der ihr 26 Jahre lang handwerklich wie künstlerisch zur Seite stand. Sie nahm hauptsächlich private Aufträge an, doch beteiligte sie sich beispielsweise auch an der Ausschreibung des Kirchenvorstands und des Magis­trats von Lauenburg für eine Taufkanne und -schale anlässlich des 700jährigen Bestehens der Maria-Magdalenen-Kirche. Ihr Entwurf wurde einstimmig angenommen. Neben ihrer handwerklichen Leis­tung stellte sie bei dieser Arbeit ihre Fähigkeit unter Beweis, historische Formen mit einer modernen und zeitgemäßen Gestaltungsweise zu verbinden und zugleich einem öffentlichen Anspruch gerecht zu werden.

Am 1. Juli 1912 legte sie ihre Meisterprüfung in Harburg ab. Im Jahr 1928 eröffnete sie ein Ladengeschäft in der Grapengießerstraße 29.

Im Jahr 1928 eröffnete sie ein Ladengeschäft in der Grapengießerstraße 29, doch 1935 verließ sie dieses wieder und richtete ihre Arbeits-, Verkaufs- und Wohnstätte in dem „Goldschmiedehaus“ An den Brodbänken 11 ein. In diesem wirkte sie als sechste Goldschmiedin in Folge.

Marga Jess wurde seit 1928 im Mitgliederverzeichnis des Deutschen Werkbundes als Mitglied der Werkstattgruppe und des Meisterrings geführt, was ihre bevorzugte Haltung für das Handwerk ­widerspiegelt. Erstmalig genannt wurde Marga Jess 1931 auch als Mitglied der Meisterprüfungskommission für Goldschmiede in der Handwerkskammer Harburg-Wilhelmsburg, Bezirk Lüneburg-Stade. 1947 trat sie in die von Ferdinand Richard Wilm gegründete „Deutsche Gesellschaft für Goldschmiedekunst“ ein.

Während der Herrschaft der Nationalsozialisten stellte sie auf verschiedenen Ausstellungen in Deutschland ihre Werke aus. Sie erhielt auf der Deutschen Goldschmiede-Ausstellung in Wetzlar 1938 den zweiten Preis für den Königspokal der Schützengilde Bevensen. Neben den privaten Aufträgen wurde Marga Jess besonders in den 1930er Jahren vermehrt mit öffentlichen Auftragsarbeiten betraut: Vermittelt durch den Gauleiter Otto Telschow stellte sie zum Beispiel silberne Nachbildungen von Teilen des Lüneburger Ratssilbers als Ehrengeschenke her. Ihre gute Auftragslage deutet auf die hohe Akzeptanz ihrer Person und ihrer technischen und künstlerischen Fähigkeiten in Lüneburg und Region hin. Andere Werkstätten konnten bereits Anfang der 1930er Jahre von privaten Aufträgen kaum noch leben, bedingt durch die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Wirtschaftslage. Nur die Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen gewährte ein sicheres Einkommen. Neben der Rohstoffknappheit wirkte sich auch der Arbeitskräftemangel allgemein lähmend auf das Gewerbe aus. Seit 1943 kam erschwerend hinzu, dass durch einen „Stilllegungsbescheid“ nicht kriegswichtige Werkstätten geschlossen werden sollten. Marga Jess entging der Schließung ihrer Werkstatt nur knapp, da sie über eine galvanische Anlage verfügte und für eine auf Feinmechanik spezialisierte Lüneburger Firma Versilberungen durchführen konnte.

Es wäre sicherlich eine allzu starke Überzeichnung ihrer Situation und Einstellung, aus ihren Arbeiten, die in der Zeit des Nationalsozialismus entstanden sind, abzuleiten, Marga Jess hätte sich den national­sozialistischen Vorstellungen angeschlossen. Eine Werkstatt, die in einer Kleinstadt von einer Frau betrieben wurde, war abhängig von Auftragsarbeiten. Mit der Wahl bodenständiger Formen und Motive hat sie sich zwar für die konformistische Richtung entschieden, hätte jedoch andernfalls nicht bestehen können. Die Dominanz der Nationalsozialisten durchdrang sämtliche Lebensbereiche, sodass sie es auch verstanden, Begriffe des Werkbundes wie „nationale Kultur“ für die eigene Ideologie und den „nationalsozialistischen Stil“ nutzbar zu machen. Hier wird die groteske Situation deutlich, dass ein Staat, der die geistige Haltung der Moderne ablehnte, ihre Auswirkungen im Kunsthandwerk für sich zu nutzen verstand.

Die ästhetische Traditionslinie der Neuen Sachlichkeit und des industriellen Funktionalismus wurde in Deutschland nach 1945 fortgeführt. Marga Jess aber blieb ihren eigenen kunsthandwerklichen Prinzipien bis zu ihrem Tode treu. Sie starb am 16. April 1953 in ihrem Haus „An den Brodbänken 11“ im Alter von 68 Jahren. Ihre Beisetzung erfolgte auf dem Zentralfriedhof mit einem in den 1930er Jahren gemeinsam mit ihren Gesellen angefertigten Gedenkstein, der neben ihrem Familiennamen das Jess’sche Familienwappen einer linksgekehrten, sich in den Schwanz beißenden, geschuppten Schlange enthält. Der Kulturausschuss der Stadt Lüneburg hat zu ihrem 100. Geburtstag ihr Grab als erhaltenswertes Denkmal deklariert.


Quelle: Constanze Sörensen
„Biographien Lüneburger Frauen“, 2005

Fotos: Kartal, Ute (1996), „Biographien Lüneburger Frauen“, 2005 S. 16