Der Bleistift
geschrieben von Rüdiger Albert im März 2012Die graue Eminenz unter den Schreibgeräten
Die Neigung des Menschen, sich mit Geschmacklosigkeiten zu umgeben, scheint schier unbegrenzt. Nyltesthemd, Lenkradschaltung und Kaugummi zum Beispiel gehören zu den herausragenden Scheußlichkeiten, so meine ich. Auf dem Gebiet der Schreibgeräte halten Faserstift und Kugelschreiber die Stellung moderner Banalitäten besetzt. Aber wo Gefahr ist, da naht auch Rettung, da kann sich der Mensch mit Geschmack zurückziehen auf Positionen, die wohl niemals von dergleichen Vulgaritäten überspült werden. Der Bleistift gehört ohne Zweifel zu den Inseln inmitten des Meeres von Schund und Ramsch.
Wer jemals einen neuen, frisch gespitzten Bleistift aus einer der hochglänzenden Blechdosen gefingert hat, in denen noch vor wenigen Jahrzehnten das Dutzend Bleistifte in zwei Lagen angeboten wurde, der ist für die Plastikwelt wohl für alle Zeit verdorben. Die Infantilisierung der Handschrift durch quietschende Fasern und glitschende Kugeln wird an ihm vorbeigehen. Dabei sind die Grundstoffe des Bleistiftes nicht einmal besonders kostbar, und die Produktion ist nicht annähernd so aufwendig wie die Herstellung einer Kuli-Mine. Graphit, Ton und Rotzedernholz reichen völlig aus. Schon seit Ende des 16. Jahrhunderts sind die Nürnberger zum Beispiel im Bleistiftgeschäft anerkannte Spezialisten. Die bahnbrechende Erfindung der maschinellen Fabrikation nutzte der Nürnberger Lothar von Faber und modelte die Bleistift-Manufaktur seines Großvaters zur Bleistift-Fabrik um. Faber fabrizierte als erster seiner Branche ab 1851 unverkennbare Markenware: Faberstifte, sechseckig und grün.
Die globale Spitzenposition wird noch heute behauptet. Faber-Castell produziert rund eine Milliarde Holzstifte pro Jahr. Konstant blieb auch das Produktionsverfahren. Immer noch bilden hochkohlenstoffhaltige Graphite, hochplastische Tone und Rotzedern die Rohstoffe. Linden- oder Fährenholz wird nur für Billigheimer verwendet; Minerale und Kaoline werden gereinigt, fein gemahlen, zu dünnem Brei angerührt, in Knetmaschinen vermischt, entwässert und homogenisiert; das Graphit-Ton-Gemisch wird dann unter Hochdruck durch millimeterdicke Minendüsen gepresst. Als Endlosfaden geformt, wird die Mine auf die gewünschte Länge geschnitten, getrocknet, bei 1100 Grad zur Weißglut gebracht, langsam wieder ausgekühlt und in einem Wachsbad zu höherer Gleitfähigkeit veredelt.
faber fabrizierte als erster seiner Branche ab 1851 unverkennbare Markenware: Faberstifte, sechseckig und grün
Die Rotzeder, eine Wacholderart, wird zu Brettchen von halber Bleistiftstärke gesägt und genutet; dann werden die Minen in die Rillen eingelegt und die zweite Hälfte des Zedernbrettchens auf die erste gepasst, geleimt, getrocknet und in Einzelstücke zerlegt. Allein der Härtegrad der Minen wurde (sagen wir mal) in den letzten 200 Jahren am Holzbleistift variiert. Etwa 20 verschiedene sind inzwischen definiert, die Bezeichnungen stammen aus dem Englischen: B für black (weich), F für firm (fest), H für hard (hart). HB, der gebräuchlichste Stift, besteht zu zwei Dritteln aus Graphit; bei den weichsten Sorten (B 9) erreicht der Kohlenstoffgehalt 90 Prozent, bei den härtesten (H 9) liegen die Anteile des Tons bei 20 Prozent.
In dieser Form begleitet der Bleistift über viele Jahrzehnte die Kontorschreiber, er verzeichnete die Abenteuer der Entdeckungsreisenden in Afrika. Diese universelle Stellung als Schreibgefährte verdankt der Bleistift seinen einzigartigen Eigenschaften: Er ist fett- und wasserfest, kälteresistent und selbstverständlich tropentauglich. Aber — und jetzt kommt sein Dilemma — der Material-Aufwand ist beträchtlich: Zwei Drittel der holzgefassten Bleistifte gehen beim Anspitzen ungenutzt verloren. Diese Verlustmargen ließen Alonzo T. Cross nicht ruhen. Er entwickelte darum den ersten Mechanismus, der es erlaubt, die Graphitmine aus einer Metallröhre heraus- und wieder zurückzudrehen. Den Drehmechanismus dekorierte Cross mit einem luxuriösen Metallgehäuse und stattete den Bleistift nach dem Vorbild des Füllhalters mit einem schicken Clip aus. Mit der Erfindung von Cross setzte die Produktion von Luxusbleistiften ein. Cross’ Drehbleistift erobern im Nu die Jackentaschen der modebewussten Herren des Eisenbahnzeitalters: im Reiseetui zusammen mit dem Füller noch immer ein viel bejubeltes und gern genommenes Geschenk. Der Drehbleistift ergänzt fortan die männliche Garderobe und ziert in einer Mini-Ausführung mit Goldkette die Dekolletés der Damen von Welt.
Die Infantilisierung der Handschrift durch quitschende Fasern und glitschende Kugeln wird an ihm vorbeigehen.
Der Fallbleistift öffnet zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts auf Knopfdruck eine Zangenmechanik und lässt die Mine heraus gleiten. Den Höhepunkt dieser Entwicklung erreichte Faber-Castell mit dem Modell TK-Matik im Jahre 1948. Beim ersten Non-Stop-Feinminen-Stift der Welt schiebt eine Automatik die Mine nach. Er füllt ohne Probleme einen Papierblock auf Knopfdruck. Das war die mechanische Geschichte des Bleistiftes.
Welche Chancen hat der Bleistift in der Zukunft angesichts der Unmengen von Stifttypen? Zwar gab es in den letzten Jahren keine Veränderungen am Markt, doch trotzdem sieht der Bleistift in eine rosige Zukunft: Denn Bleistifte werden immer gebraucht, Techniker und Ingenieure stellen immer gleich hohe Ansprüche. Zu beobachten ist freilich eine Tendenz zu schönen und bunten Holzbleistiften aus Japan, Italien und Frankreich. Solche Designer-Stifte werden zusammen mit Notizbüchern und Tagebüchern vor allem an Frauen mit Muße zum Schreiben und Malen verkauft. Die Herren bevorzugen zum Eigenbedarf Drehbleistifte von „Yard-O-Led“, wenn es denn etwas Besonderes sein soll. Die im Jahre 1934 gegründete Manufaktur ist Inhaberin eines Patents von einer neuen Generation von Minenträgern. Alle Schreibgeräte werden ausschließlich in Handarbeit hergestellt und vollendet durch ein Team von Handwerkern, Juwelieren und Graveuren, welche spezialisiert sind auf die Verarbeitung von Silber und Gold. Die Stifte, auch besetzt mit Edelsteinen, werden mit einer fortlaufenden Seriennummer versehen, die für Echtheit und Originalität bürgt. Geliefert werden die Schreibgeräte in einer schwarzen Echtholzbox, inklusive einem Lederetui, das für die sichere Aufbewahrung unterwegs sorgt. Bei Schreibgeräten aus Sterling Silber ist zusätzlich ein Pflegetuch enthalten. Der Schreibspaß beginnt bei etwa 230 Euro und kann auch schon mal mehr als das Doppelte kosten. Und der oder die Begierliche braucht etwas Geduld – die Lieferzeit beträgt mindestens sieben Tage.
Für Stilbewußte gibt es auch eine gute Nachricht: Es geht nämlich auch etwas günstiger; in der Hamburger „Werkstatt für allerlei Eigensinniges“. Michael Pflüger formt in der Eppendorfer Landstraße, fast am Ende auf der linken Seite, Bleistift-Unikate aus Edelstahl, Messing, Kupfer oder Edelholz – und das seit 1987. In der Hansestadt müssen Werbegrafiker nämlich mit peinlichen Imageverlusten rechnen, wenn sie bei Präsentationen ohne so ein Ding von Pflüger in der Hand ihre Entwürfe an den Mann bringen wollen. Pflügers Kundschaft besteht „aus netten Verrückten und aus potenten Sammlern“ wie er mal sagte – aus Menschen also, die sich mit dem Bleistift auf eine traditionelle Stufe der Schreibkultur zurückziehen, ohne Glitzer und Glamour. Der Bleistift ist schlicht die graue Eminenz der Schreibgeräte – Position unangefochten!(ra)
Fotos: Faber-Castell, Michael Pflüger
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